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Kommentar Reisewarnung und ReaktionViel Feind, viel Ehr, viel Irrsinn

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Nach Ankara ist jetzt auch Berlin mit Chauvinismus infiziert. Der Heilungsprozess ist langwierig. Wirkt die Bundestagswahl lindernd?

Schulz: „Deutschland ist kein Land, das jede Demütigung akzeptieren kann“ Foto: dpa

C hauvinismus ist eine ansteckende und gefährliche Krankheit. Sie wird nicht über Körperkontakt oder den Atem (Tröpfcheninfektion) übertragen, sondern durch die Verbreitung von hohlem nationalistischem Geschwätz.

Studien beschreiben die Krankheit als eine verbale Überhitzung, verbunden mit plötzlicher Schnappatmung bei der Beleidigung ganzer Nationen. Bei Begriffen wie „Ehre“ oder „Stolz“ droht eine Einschränkung kognitiven Verhaltens bis hin zu schwerwiegenden Bewusstseinsstörungen. Bei einer Übertragung auf Teile der Bevölkerung sind körperliche Auseinandersetzungen eine Folge, die häufig mit Fäusten, Flaschen oder Artilleriegeschützen ausgetragen werden.

Wie hoch das Ansteckungsrisiko von Chauvinismus auch über mehr als tausend Kilometer hinweg ist, zeigen jüngste Äußerungen deutscher Politiker auf Erklärungen eines türkischen Staatsoberhauptes. Nachdem dieser gehäuft Stolz und Ehre seiner Nation beschworen hat und dazu vermehrt unschuldige deutsche Staatsbürger einsperren ließ, ist die Chauvinismus-Infektion – wie von Ankara gewünscht – nun nach Berlin übergesprungen.

Betroffen ist etwa ein Kanzleramtschef (CDU), der „klipp und klar“ sagte: „Auch Deutschland hat eine Ehre.“ Ein Kanzlerkandidat (SPD) hat erklärt: „Deutschland ist kein Land, das jede Demütigung akzeptieren kann.“ Ein Justizminister (SPD) sprach davon, dass Deutschland nun „die Samthandschuhe“ ausziehen müsse. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet uns, hier Namen zu nennen.

Der Heilungsprozess von Chauvinismus-Infizierten ist langwierig. Häufig hilft nur eine totale Isolation des Erkrankten. Rationalen Argumenten ist der Infizierte nur sehr beschränkt zugänglich. Wird etwa darauf hingewiesen, dass nur natürliche Personen über „Ehre“ verfügen können, nicht aber ganze Staaten, argumentiert man gar, dass man ein Volk schlecht demütigen kann, so folgen darauf typischerweise Ausflüchte oder der Hinweis, man habe gerade verstopfte Ohren.

Hilfreich zur Bekämpfung des Chauvinismus kann neben dem Entzug des Milchgetränks Ayran und von Alkohol in jeglicher Form eine bevorstehende Bundestagswahl sein, nach der sich die Erkrankten häufig erstaunlich rasch wieder erholen. Sicher ist das aber nicht.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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3 Kommentare

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  • Politik und Satire nähern sich immer stärker einander an.

     

    Was ist hier eigentlich was?

    ...

  • Als Antibiotikum hat sich da immer wieder wohlgemeinte Ignoranz bewehrt, nach dem Motto: Ruhig Brauner, das wird schon wieder!"

  • Die Reisewarnung betrifft nicht die eigentliche Reise nach Deutschland. Denn in Deutschland selbst haben die einreisenden Türken nichts zu befürchten. Die Warnung gilt eher der Rückreise aus Deutschland und die Wiedereinreise in die Türkei. Dabei besteht die nicht unwarscheinliche Möglichkeit einer Festnahme durch türkische Behörden und eine anschließende dauerhafte Verwahrung ohne Rechtsbeistand. Immerhin haben türische Behörden ihre "Ermittlungstätigkeiten" (oder kurz: nachrichtendienstliche Arbeit/Aufklärung/Spionage) enorm ausgebaut und nutzen deren Ergebnisse zur Durchführung ganzer Verhaftungsorgien.