Kommentar Reichsbürger-Prozess: Die Gefahr ist nicht gebannt
Reichsbürger wurden lange unterschätzt. Zwischen ihnen und der Polizei soll es Verstrickungen geben. Eine Aufarbeitung gibt es nicht.
N ervtötend vielleicht, gefährlich kaum: Die Reichsbürgerbewegung wurde lange unterschätzt. Trotz vielfacher Warnungen von Rechtsextremismus-Experten beschäftigten sich die Sicherheitsbehörden kaum systematisch mit diesem Spektrum.
Das änderte sich, als Wolfgang P. im Oktober 2016 in Franken einen Polizisten erschoss. Plötzlich war die Aufmerksamkeit groß für diese merkwürdige Szene, in der sich schrullige Verschwörungstheoretiker ebenso finden lassen wie überzeugte, gewaltbereite Rechtsextremisten.
Zehn Monate später fällt eine Bilanz der bisherigen Maßnahmen gemischt aus: Zwar hat der Verfassungsschutz die Szene endlich bundesweit in den Blick genommen, auch gibt es in einigen Ländern nun Erlasse, mit denen den besorgniserregenden rund 700 bewaffneten Reichsbürgern der Waffenschein entzogen werden soll.
Doch die Wirkung dieser Erlasse ist bislang in vielen Fällen begrenzt: Laut Recherchen des MDR wurden von den rund 100 bewaffneten Reichsbürgern in Sachsen und Thüringen erst weniger als zehn die Waffenscheine entzogen.
Die zuständigen Kommunen klagen, die Hürden für den Entzug seien viel zu hoch, als dass das Verbot umgesetzt werden könnte. Auch auf den naheliegenden Schritt, in Zukunft gleich bei Erteilung des Waffenscheins durch eine Abfrage beim Verfassungsschutz zu überprüfen, ob der Anwärter der Reichsbürgerszene angehört, konnten sich die Innenminister bisher nicht einigen – auch künftig können Reichsbürger also so lange mit einer Waffe herumlaufen, bis durch eine Einzelüberprüfung auffällt, dass sie eigentlich gar keinen Waffenschein besitzen dürfen.
Dass sich die öffentliche Erregung über das Thema wieder gelegt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von der Reichsbürgerszene ausgehende Gefahr noch nicht gebannt ist. Das ist wichtig in diesen Tagen, in denen ein Innenminister die von einer linksradikalen Internetplattform ausgehende Gefahr beschwört, während die Bundespolizei eine Razzia gegen rechte Terroristen vor ihren eigenen Kollegen geheimhalten muss – aus Angst, diese könnten mit den Beschuldigten unter einer Decke stecken. Auch zwischen der Reichsbürgerszene und der Polizei soll es tiefe Verstrickungen geben – eine systematische Aufarbeitung sucht man hier bislang vergeblich.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen
Das hat Erpresserpotenzial
Friedenspreis für Anne Applebaum
Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
BSW in Sachsen und Thüringen
Wagenknecht grätscht Landesverbänden rein
Rückkehr zur Atomkraft
Italien will erstes AKW seit 40 Jahren bauen
Klimaschädliche Dienstwagen
Andersrum umverteilen
Tech-Investor Peter Thiel
Der Auszug der Milliardäre aus der Verantwortung