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Kommentar Proteste in RumänienDer Frust ist explodiert

William Totok
Kommentar von William Totok

Hunderttausende Demonstranten drängen gegen die rumänische Regierung auf die Straße. Schuld ist das marode System.

Ritualisierte Schuldzuweisungen an die jeweilige Regierung – seit 27 Jahren Foto: dpa

D as Unbehagen der rumänischen Bevölkerung an der Politik der Regierenden erfasste in den letzten Tagen immer mehr Menschen, insbesondere die Jungen. 300.000 sollen es am Mittwochabend gewesen sein, die in mehreren Großstädten der Kälte stundenlang trotzten, um ihre angestaute Unzufriedenheit in emotionalen Sprechchören zum Ausdruck zu bringen.

Dabei waren die umstrittenen Verordnungen der sozialdemokratisch-liberalen Regierungskoalition eigentlich nur der Funke, der den Frust zur Explosion brachte. Perspektivlosigkeit, niedrige Gehälter, eine korrupte politische Klasse, ein bürokratisch aufgeblähter Staatsapparat und eine zynische Clique von oligarchisch agierenden Neureichen sind die wahren Triebfedern, die all die Leute auf die Straße drängen.

All das wird nicht nur von neoliberalen rumänischen Politikern, sondern auch in der Europäischen Union kleingeredet. Man blickt lieber auf die glänzenden Schaufenster in den großen Städten als hinter die Fassaden der Wohnsilos oder auf das Elend der Landbevölkerung, die zum Großteil auf Plumpsklos angewiesen ist und fließendes Wasser nur vom Hörensagen kennt.

Gewiss, die Korruptionsbekämpfung gilt als höchstes Gebot – aber die Ideale ändern sich je nach politischer Couleur. Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Wer versteht noch eine Welt, in der die des Plagiats überführte Chefin der Antikorruptionsbehörde für unschuldig erklärt wird, der frühere sozialdemokratische Premier aber wegen des gleichen Vergehens auf seinen Doktortitel verzichtet?

Hunderttausende werden auch in den nächsten Tagen demonstrieren und sich an der Illusion festklammern, die derzeitige Regierung sei an ihrem Schicksal schuld. Diese schon fast ritualisierten Schuldzuweisungen an die jeweils amtierenden Verwalter eines unsozialen und maroden Systems prägten die letzten 27 postkommunistischen Jahre in Rumänien. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

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William Totok
William Totok, geb. in Groß-Komlosch (Rumänien); Studium der Germanistik und Rumänistik in Temeswar; Gründungsmitglied der „Aktionsgruppe Banat“ (1972–1975); politische Haft wegen „Verbreitung staatsfeindlicher Gedichte“ (1975–1976); lebt seit 1987 als freischaffender Schriftsteller und Publizist in Berlin und schreibt u.a. für die taz. Letzte Veröffentlichungen: „Zwischen Mythos und Verharmlosung. Über die kritische Vergangenheitsbewältigung, Ion Gavrilă Ogoranu und den bewaffneten, antikommunistischen Widerstand in Rumänien“, (Iaşi 2016, zusammen mit Elena-Irina Macovei), „... an den Fahnenstangen fault die Wut. Gedichte, (Ludwigsburg 2016).
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6 Kommentare

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  • Also bei all den Zuständen in Rumänien frage ich mich, ob man das nicht hätte vor dem EU-Beitritt voraussehen können. Mit Rumänien ist ein Land EU-Mitglied geworden, welches bei weitem die Stabilitätsbedingungen nicht erfüllt. Da könnte man ebenso die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei von heute auf morgen positiv entscheiden.

     

    Ich frage mich allen ernstes wie viel Willkür bei diesen Entscheidungen im Spiel ist!? Wie kann es sein, daß solch ein Land in der EU ist?

  • Na, da freuen wir uns doch, wie gut die sozialliberale Mehrheitsweisheit trägt in einem europäischen Land. Fehl noch eine mächstige Frau der Welt als Regierungschefin, dann nennt man das Aufschwung.

  • >>Wer versteht noch eine Welt, in der die des Plagiats überführte Chefin der Antikorruptionsbehörde für unschuldig erklärt wird

     

    Also Stand Nov. 2016 war, dass nur ein Bruchteil der Arbeit einen Ähnlichkeitsgrad von unter 5% aufweist. Ich glaube nicht, dass das den Vergleich erlaubt zu Personen die mehr als die Hälfte identisch abkopieren.

     

    Weiterhin:

    -- gerade das ist die Frage, ob der Staatsapparat weiterhin aufgebläht ist, oder ob es griechische Ausmaße Post-Troika annimmt.

    -- niedrige Gehälter und die Landbevölkerung ist was Thema sein sollte, aber erstaunlich selten in RU Medien in den europäischen Vergleich gerät (und auch von der kaum existierenden Linken verwendet wird). Das mit dem 'von fließend Wasser höhren' ist aber etwas übertrieben, heutzutage "noch nicht einmal" in Afrika noch der Fall.

    • @Donald Duck:

      Was Ihre Kenntnis von Afrika betrifft, haben Sie den Kontinent wohl nur als Tourist der Luxusklasse kennengelernt.

    • @Donald Duck:

      *hören

       

      Encore. Eher ökonomisches Thema bei den Protesten: Sozialhilfe und Renten. Und im (zweit?-)ärmsten Land der EU überrascht, dass es nicht darum geht, diese zu erhöhen, sondern stärker um die Angst, dass diese am ehesten den Freunden der korrupten PolitikerInnen tatsächlich in die Hände fallen, oder "populistisch" in die Hände spielen. Eurostat zur Frage ob Rum. höhere Renten braucht, deutlich: JA

  • ja, Rumäniens politische Kultur ist schwierig.

    Aber das Land ist auch sehr abhängig geworden von westlichen und östlichen Investoren.

    Gibt es auch Initiativen, die neue Organisationen gründen?