Kommentar Mays Parteitagsauftritt: Neue Stärke, alte Schwächen
Beim Parteitag der britischen Konservativen zeigte sich Theresa May souverän. Wie sie in Brüssel punkten will, bleibt aber rätselhaft.
S ie tanzte zu Abbas „Dancing Queen“ auf die Bühne, sie hielt eine souveräne Rede, sie strahlte Zuversicht aus: Alles, was zuletzt der britischen Premierministerin abhandengekommen zu sein schien, war bei Theresa Mays Auftritt zum Abschluss des Jahresparteitags der regierenden Tories plötzlich wieder da. Es ist, als zöge Großbritanniens glücklose Regierungschefin geradezu Stärke aus dem Gegenwind, der ihr in Brüssel und innerhalb des eigenen Lagers ins Gesicht bläst. Diese Premierministerin wird das Land so schnell nicht los – es sei denn, die Parlamentarier in Westminster nähmen dafür den eigenen politischen Untergang in Kauf.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die tiefen Gräben in der britischen Politik in Bezug auf den Brexit plötzlich zugeschüttet wären. Dass Theresa May ihr Brexit-Konzept jetzt ein Freihandelsabkommen nennt, womit bisher ihre Gegner ihre eigenen Konzepte bezeichnet hatten, verwirrt mehr, als es erhellt. Wie die Britin jetzt in Brüssel punkten will, bleibt rätselhaft. Außer sie nutzt ihre neue Stärke in der eigenen Partei dafür, neue Zugeständnisse an die Europäische Union zu machen – in der irrigen Hoffnung, dass das nicht auffällt.
Aber wer behauptet, die Briten wären vor lauter Brexit plötzlich alle verrückt geworden und könnten Probleme nur noch schaffen, aber nicht lösen, der dürfte durch diesen Parteitag der Konservativen ebenso wie durch den Labour-Parteitag in der Vorwoche eines Besseren belehrt worden sein. Was die Menschen bewegt, ist nicht Europa, sondern die britische Innenpolitik, von der Rolle des Staates in der Wirtschaft bis zur Wohnungskrise. Die linke Opposition sprüht vor Ideen, manche merkwürdig, aber alle diskussionswürdig. Die konservative Regierung, voller ungeduldiger junger Minister, dürfte mit dem von May verkündeten Ende der Sparpolitik auch ein Ende der eigenen Ideenlosigkeit einläuten.
Europa könnte davon lernen. Es gibt Gründe dafür, dass in Großbritannien entgegen dem Anschein populistische Strömungen eine Randerscheinung der Politik bleiben und dass es das so ziemlich letzte westeuropäische Land mit einem soliden Zweiparteiensystem ist. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass Wahlen etwas ändern können, stabilisieren sich Politik und Gesellschaft. Gerade auch deswegen ist das Gerede von einem zweiten Brexit-Referendum, das das erste rückgängig macht, so fahrlässig.
Besser wäre es, den Brexit dafür zu nutzen, überfällige Veränderungen in Großbritannien endlich anzugehen. May und Corbyn haben jedenfalls bewiesen, dass sie dazu bereitstehen.
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