Kommentar Joachim Gauck: Präsident im Blindflug
Gauck sorgt sich um die Wahlbeteiligung und ist über den NSA-Skandal beunruhigt. Den Zusammenhang zwischen beidem will er aber nicht sehen.
G ut anderthalb Monate hat Joachim Gauck, gebraucht, seiner Beunruhigung über die geheimdienstliche Totalüberwachung des Internet- und Telefonverkehrs Ausdruck zu verleihen. In einem Interview mit der Passauer Neuen Presse nötigt sich der Bundespräsident sogar eine vorsichtige Respektsbekundung für den Whistleblower Edward Snowden ab.
Gleichzeitig spricht das deutsche Staatsoberhaupt über das Problem einer geringen Wahlbeteiligung. Wer freiwillig darauf verzichte, die Stimme abzugeben, so Gauck, „entmächtigt sich politisch". Besondere Kritik hat er an einer nicht näher bezeichneten „Gruppe von Intellektuellen", die diese Wahlenthaltung zum politischen Programm erhöben.
Was der Bundespräsident nicht sehen will ist, dass die „Entmächtigung" eventuell schon lange vorher stattgefunden hat - unter anderem durch ihn. Wenn er sagt, „dass es uns Politikern nicht immer gelingt, hochkomplexe Sachverhalte für alle Bürger nachvollziehbar zu vermitteln", hat er die Hierarchie bereits definiert: Auf der einen Seite die Politiker, die Avantgarde, und auf der anderen „der Bürger". Letzterer muss nur gelehrt werden, die klugen Entscheidungen von oben zu verstehen.
Und dann erklärt Joachim Gauck: Die NSA sei nicht mit der Stasi vergleichbar. Der DDR-Geheimdienst habe „Bürger bespitzelt, um die gewonnenen Erkenntnisse gegen sie zu verwenden [...] ihnen Freiheit und Bürgerrechte zu rauben und sie so in dauernder Ohnmacht zu halten". Und fügt an: „Darum geht es in dem aktuellen Fall nicht."
„Hochkomplexer Sachverhalt“
Wie der Präsident angesichts der Flut von Enthüllungen seit Edward Snowdens Gang an die Öffentlichkeit zu diesem Ergebnis kommt, bleibt im Dunkeln. Das ist vielleicht so ein „hochkomplexer Sachverhalt", den unsere politischen Eliten noch nicht „für alle Bürger nachvollziehbar" vermittelt haben.
Dabei wäre ein Erläuterung hochwillkommen. Solange Angela Merkel und ihr Kanzleramtschef sich vornehm zurückhalten wäre Gauck, als überparteilicher und unabhängiger Repräsentant, doch die erste Wahl, um Nachfragen zu stellen und für die Öffentlichkeit Antworten einzufordern.
Statt dessen flüchtet er sich in ein Netz aus beliebigen Phrasen. Das mag zu feierlichen Jubiläen und Ordensverleihungen angemessen sein, angesichts einer Krise des Rechtsstaats und der Demokratie ist das zu wenig.
Dass eine Demokratie, die einen übergesetzlichen Geheimdienstapparat mit unbekannten Befugnissen und unendlichen technischen Möglichkeiten duldet, sich in einer Krise befindet, daran dürfte kaum Zweifel bestehen. Dass keine Partei mit Aussicht auf Regierungsbeteiligung sich ernsthaft daran zu stoßen scheint, könnte Anlass genug sein, nicht wählen zu gehen. Diesen Zusammenhang aber will Joachim Gauck nicht sehen.
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