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Kommentar Jean-Claude JunckerRien ne va plus

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Der EU-Kommissionspräsident hat nach dem Brexit-Votum versagt. Von Anfang an war Jean-Claude Juncker eine Fehlbesetzung.

Fehlbesetzung: Juncker (r.) fasst gern an, ohne anzupacken – wie hier Ukip-Chef Nigel Farage Foto: reuters

W enn es nicht so traurig wäre für Europa, könnte einem Jean-Claude Juncker fast schon leidtun. Was ist nur aus dem leutseligen Luxemburger Kumpeltyp geworden, der mit seinem freundlichen Genuschel und niedlichen Akzent selbst die härtesten Konflikte in der EU zu relativieren vermochte? ­Ri­en­­ ne va plus. Nach dem Brexit-Votum hat der Kommissionspräsident komplett versagt. Statt den Schaden zu begrenzen, hat er ihn vergrößert – mit seinem Solo für Ceta, den Freihandelspakt mit Kanada.

Junckers demonstrativ herzliche Begrüßung des rechtsradikalen EU-Feindes Nigel Farage im EU-Parlament am Dienstag nach dem Brexit-Votum – mit Schulterklopfen und schallendem Gelächter – ließ sich noch als hilfloser Versuch der Gesichtswahrung einordnen. All die Küsschen und Umarmungen, mit denen Juncker Gäste zu bezirzen pflegt, wirken nun allerdings noch hohler. Sie stehen für seine ganze Haltung: Weiter so, als wäre nichts geschehen.

Dabei geht es jetzt um alles – nicht nur, aber auch wegen Juncker, der die Briten nicht überzeugen konnte, in der EU zu bleiben: weder mit seinem unverbindlichen Goodwill-Gemurmel am Anfang der Austrittskampagne noch mit seinen verzweifelten Drohungen am Schluss. Saft- und kraftlos wirkte beides, von Elan für Europa keine Spur. Dabei war genau das einst Junckers große Stärke.

Mit seiner Europa-Liebe übertünchte der Luxemburger lange seine größte Schwäche: dass er als langjähriger Chef der größten Steueroase Europas von Anfang an eine Fehlbesetzung war. Schon seine Wahl bestätigte viele Vorurteile gegen die angeblich von Konzerninteressen gesteuerte Kommission. Aber es geht noch schlimmer: Direkt nach dem Brexit mit Ceta ein umstrittenes, geheim verhandeltes Abkommen durchdrücken zu wollen ist unglaublich dreist – oder dumm. Wer dann noch auf Kritik antwortet, wo über Ceta abgestimmt werde, sei ihm „relativ schnurzegal“, hat nichts begriffen. Und muss gehen.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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11 Kommentare

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  • Herrn Juncker vorzuwerfen, dass er Luxemburg in eine Steueroase verwandelt hat und CETA und TTIP durchdrücken will, ist ungefähr so logisch wie einem Vorstandschef vorzuwerfen, dass er Gewinn in seinem Unternehmen machen will.

     

    GERADE WEIL ER NUR FÜR DAS KAPITAL ARBEITET, IST ER KOMMISSIONSCHEF GEWORDEN.

     

    Sein Verdienst könnte es sein, der erste Präsident zu sein, während dessen Amtszeit die EU schrumpft.

    Ich brauche keine Rumänen, Bulgaren, Balten, Franzosen etc., um mir erzählen zu lassen, dass ich lieber Glyphosat fressen soll statt Menthol-Zigaretten zu rauchen. Es besteht nicht der geringste Anlass, die Autonomie von Menschen immer mehr einzuschränken, indem man die Menge der Menschen, die Entscheidungen treffen, die einen betreffen, immer größer macht.

     

    Die EU, nicht Herr Juncker, hat vollständig versagt und ihr Zerfall könnte die Chance für einen vernünftigen Neuanfang bieten.

  • 3G
    34970 (Profil gelöscht)

    Ich denke er machts nicht schlecht. Was hier aufgeworfen wird hat vorallem mit "Vertrauen" zu tun. Also meins hat er. Wer es nicht hat ist Martin Schulz. Mit seiner Polterei leistet er der EU und Deutschland einen Bärendienst. Erinnere nur an seinen Auftritt damals in der Knesset.

  • Seit Jahren werbe ich für eine EU-Reform-Debatte. Seit dem Frühjahr ist mein neuester Anlauf gestartet, der mittlerweile als „Europäische Föderation“ läuft. Wieder kaum bis keine Resonanz.

     

    Es ist völlig egal, wer EU-Kommissionspräsident ist. Wenn sich die Europäer nicht für die europäische Einigung engagieren, wird es sie nicht geben. So einfach ist das.

    • @mister-ede:

      Und das ist auch gut so.

      Den Schwachsinn von 28 Nationen alle gewachsenen Unterschiede wegzudefinieren funktioniert und unter einem Ideal zu vereinen funktioniert nicht.

       

      Das mag sich vielleicht in ein paar Generationen ändern - aber man sieht ja wo man landet wenn man meint das Ganze nach 25 Jahren und ein paar Erasmusurlaubern übers Knie brechen zu müsse.

  • Es liegt AUCH an der Person Juncker. Natürlich muss man auch (vielleicht sogar: vor allem) fragen, wie es sein kann, dass jemand, nachdem er LUX in eine Steueroase verwandelt hat, in der EU die wichtigste leitende Position bekommen kann, in der er u. a. darauf zu achten hätte, dass keine Steueroasen in der EU betrieben werden. Gewiss, gewiss, das ganze System ist "rotten to the core", aber dass das nichts mit der Person Juncker zu tun hätte, kann man nun wirklich nicht behaupten. Zuletzt wirkte er nicht mehr nur beratungsresistent, sondern komplett unzurechnungsfähig. Ich vermute, es gäbe, von den sachlich/fachlichen abgesehen, schon genügend medizinische Gründe, ihn "in allen Ehren" von seinen Ämtern zu entbinden...

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @HP Remmler:

      "Natürlich muss man auch (vielleicht sogar: vor allem) fragen, wie es sein kann, dass jemand, nachdem er LUX in eine Steueroase verwandelt hat, in der EU die wichtigste leitende Position bekommen kann..."

       

      Französischer Vorname und deutscher Nachname - ein perfekter EU-Kompromiss.

  • Wenn Juncker fallen sollte, wäre er nur das nächste Bauernopfer für Merkel. Der EU-Kommissionspräsident hat in seiner Amtszeit zu 99,9% die Interessen der deutschen Kanzlerin vertreten. Und wieder einmal kann sich Merkel zurücklehnen und jegliche Verantwortung für das entstandene Debakel von sich weisen.

     

    Um es deutlich zu sagen: Mich würde ein Sturz Junckers nicht ansatzweise stören. Gemessen an dem Schweregrad seiner Fehler ist aber der Sturz Merkels seit langem überfällig.

  • Äh, mag ja sein, dass Juncker, Malmström und Konsorten gerade nichts dazu tun, um die EU-Skepsis zu mindern...

     

    ABER – die EU Kommission arbeitet ja nicht im luftleeren Raum.

     

    Die EU Kommission hat ihren Auftrag von den Mitgliedsländern. Und die Regierungen der Mitgliedsländer befürworten CETA, TTIP und TISA, distanzieren sich aber gerne vordergründig und medienwirksam von der Kommission.

     

    Ich finde es schwer auszuhalten, dass die Zeitungen dieses Good-Cop-Bad-Cop Spiel immer weiter mitspielen und damit Teil daran haben, die Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen.

     

    Die Briten werden, wenn der Brexit vollzogen wird, nur eines gewonnen haben: Ihre Regierung wird nicht mehr die EU die Drecksarbeit machen lassen können, sondern aus der Deckung kommen müssen. Aber einen Unterschied wird auch das nicht machen.

  • Es liegt nicht an der Person Juncker, es ist die EU: Nicht nur CETA, auch Glyphosphat, ein Stoff, der von den Bürgern mehrheitlich abgelehnt wird und dessen Zulassung dann auch die Regierungen ablehnen (sie wollen ja schließlich wieder gewählt werden) wird stattdessen von der EU durchgesetzt, die sich fernab von den Bürgern und nahe an den Lobbyisten bewegt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es nicht nur an den "dummen, britschen Wählern" und deren populistischen Verführen lag, hier ist er: Der Umgang der EU mit Glyphosphat und CETA spricht Bände !!!

    • 3G
      30404 (Profil gelöscht)
      @stph:

      Es heisst übrigens Glyphosat

       

      Auf diesem Hintergrund kann ich mir auch sehr gut vorstellen dass Glyphosphat mehrheitlich ablehnen, würde ich auch wenn ich NICHT wüsste was es ist.

  • Allerdings! Je eher Juncker geschasst wird, desto besser.