Kommentar Flüchtlingspolitik in Europa: Nichts sehen, nichts hören, nichts tun
Die meisten Fliehenden bleiben nahe ihrer Heimat. Im Kongo steigen die Flüchtlingszahlen. Die Krise verschärft sich, die EU bleibt ignorant.
I n den deutschen und europäischen Diskussionen über die richtige Flüchtlingspolitik wird ein Aspekt meist übersehen: Die allermeisten Fliehenden und Verjagten der Welt bleiben so nahe an ihrer Heimat, wie es geht. Entweder wollen sie einfach möglichst schnell wieder zurück nach Hause, oder sie haben gar nicht die Möglichkeit, weiter zu reisen als einen Fußmarsch. Oder aber Terror und Gewalt hindern sie daran, sich in Sicherheit zu begeben. Die schlimmsten Flüchtlingsdramen der Welt sind daher auch oft die unsichtbarsten – und spielen in der politischen Debatte keine Rolle.
Nirgends auf der Welt steigt die Zahl der Binnenflüchtlinge derzeit so rasant an wie in der Demokratischen Republik Kongo: 3,8 Millionen waren es vor einem Monat, annähernd 4 Millionen dürften es mittlerweile sein. Die Hälfte davon ist seit Sommer 2016 dazugekommen. Und ein Ende ist nicht abzusehen: Jeden Monat werden es gut 100.000 mehr. In immer mehr Teilen des riesigen Landes mit 80 Millionen Einwohnern auf der Fläche Westeuropas breiten sich Konflikte aus, bei denen Terror gegen die Zivilbevölkerung das beliebteste Kriegsmittel ist. Inzwischen steigt auch die Zahl der Unterernährten im Kongo deutlich an – derzeit 7,7 Millionen, es werden immer mehr, und das in einem der fruchtbarsten Länder der Erde.
Zusammen mit ähnlichen Krisen minderer Größenordnung in Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik offenbart sich hier ein länderübergreifendes Scheitern der internationalen Friedenssicherung. Im Kongo steht nämlich auch die größte UN-Friedenstruppe der Welt. Bisherige Friedensstrategien bauen darauf auf, den kongolesischen Staat zu stärken, weil Staatszerfall als Grund für die verbreitete Gewalt gesehen wird. Aber wenn staatliche Akteure selbst Gewaltakteure sind und staatliche Organe nicht neutral agieren, sondern Konflikte mit anheizen, fördert diese Strategie die Instabilität, statt sie einzudämmen.
Unter diesem Aspekt ist das ganze Gerede von Fluchtursachenbekämpfung und Unterstützung für Afrikaner, damit sie zu Hause bleiben, ziemlich sinnfrei. Die Kongolesen – und die Südsudanesen und Zentralafrikaner – bleiben ja zu Hause. In Elendsquartieren – in Sichtweite ihrer Heimat und in Schussweite ihrer Feinde. Und genau deswegen schert sich der Rest der Welt nicht im geringsten um ihr Überleben.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen