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Kommentar Festnahmen in der TürkeiStrategie der Eskalation

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die HDP-Führung versuchte im PKK-Konflikt zu vermitteln. Ihre Verhaftung macht erneut deutlich, dass Erdoğan nicht den Frieden sucht.

Diyarbakir am Freitag Foto: dpa

E s ist erst ein gutes Jahr her, da galt der jetzt verhaftete Ko-Parteichef der kurdisch-linken HDP, Selahattin Demirtaş, als die große politische Hoffnung der Türkei. Dank des eloquenten Auftretens des smarten Anwalts aus Diyarbakir, der es geschafft hatte, auch einen großen Teil der türkischen Linken und linksliberalen Community hinter sich bringen, gewann die HDP bei den Wahlen im Juni 2015 mit 13,5 Prozent 80 Sitze im Parlament in Ankara.

Die Kurden hatten plötzlich politisches Gewicht, kurzfristig schien sogar eine Regierungsbeteiligung möglich, da Erdoğans AKP gleichzeitig die absolute Mehrheit verloren hatte.

Seit dieser Wahl ist in der Türkei nichts mehr wie es einmal war. Erdoğan verhinderte eine Koalitionsregierung und schaltete in den Gewaltmodus. Schon im Wahlkampf für die von Erdoğan durchgesetzten Neuwahlen, die dann am 1. November des vergangenen Jahres stattfanden, wurde die HDP vielfach zur Zielscheibe extremer Gewaltakte.

Angefangen mit dem Anschlag auf kurdische Aktivisten im Juli in Suruc über das Attentat auf eine HDP-Friedensdemonstration im Oktober, bei dem 102 Menschen starben, bis zu vielfachen Übergriffen auf HDP-Parteibüros, gab es ein klares Ziel der Gewaltakte: die HDP sollte soweit ausgeschaltet werden, dass sie bei der Novemberwahl nicht wieder ins Parlament kommen würde.

Nachdem das misslang und die Partei trotz aller Repression die Zehnprozenthürde dennoch erneut überspringen konnte, setzte Erdoğan auf eine neue Strategie: Wegen angeblicher Unterstützung der „Terrororganisation PKK trommelte er dafür, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufheben zu lassen, um diese dann einzeln verurteilen und ins Gefängnis stecken zu können. Im Mai dieses Jahres war es soweit: von insgesamt 59 HDP Abgeordneten wurde bei 57 die Immunität aufgehoben.

Jetzt hat der Staatspräsident die Aufhebung der Immunität genutzt und die gesamte Parteispitze verhaften lassen. De facto ist die HDP damit verboten, eine normale politische Arbeit findet nicht mehr statt. Stattdessen eskaliert die Gewalt.

Sieg statt Frieden

Immer wieder hatte gerade der jetzt verhaftete Selahattin Demirtaş in den letzten Monaten geradezu verzweifelt dazu aufgerufen, zu Verhandlungen mit der PKK zurückzukehren statt die Gewaltdosis kontinuierlich zu erhöhen. Als im Frühjahr mehrere kurdische Städte, darunter die Altstadt von Diyarbakir, bei Kämpfen zwischen PKK-Anhängern und der Armee in Schutt und Asche gelegt wurden, war es Demirtaş, der immer wieder versuchte, Waffenruhen zu vermitteln und zur Einstellung der Kämpfe aufrief. Doch schon zu diesem Zeitpunkt wollten weder Erdoğan noch die PKK darauf hören.

Mit der Verhaftung von Selahattin Demirtaş und zehn weiteren führenden HDP-Politikern, darunter auch seiner Ko-Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag, hat Erdoğan nun die letzte Chance auf eine Deeskalation des Bürgerkrieges bewusst in den Wind geschlagen. Der Staatspräsident will keinen Frieden mit den Kurden, sondern setzt auf einen militärischen Sieg.

Mit maximaler Gewalt“ sagte kürzlich ein langjähriger politischer Beobachter des Konflikts, versuche nun die türkische Staatsführung das „Kurdenproblem“ zu erledigen. Wie es jetzt weitergeht ist offensichtlich: Wenige Stunden nach den Festnahmen der HDP-Führer explodierte vor dem Polizeihauptquartier in Diyarbakir eine massive Autobombe. Mindestens acht Menschen starben, über einhundert wurden verletzt. Erdoğan führt die Türkei in den Bürgerkrieg.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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5 Kommentare

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  • "Mit der Verhaftung von Selahattin Demirtaş und zehn weiteren führenden HDP-Politikern, darunter auch seiner Ko-Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag, hat Erdoğan nun die letzte Chance auf eine Deeskalation des Bürgerkrieges bewusst in den Wind geschlagen. Der Staatspräsident will keinen Frieden mit den Kurden, sondern setzt auf einen militärischen Sieg."

     

    Ja und Deutschland bzw. die NATO muss ihm dabei zur Seite stehen, d.h. es ist ein militärisches Bündnis. Wenn die Türkei mit Panzern normale Wohnhäuser zerschiesst, ganze Landstriche entvölkert, haben wir hier Solidarität zu üben. Aber das sollte aufhören - dieses Land gehört so nicht mehr in die NATO und einen privilegierten Zugang zum Markt der EU sollte sie auch nicht mehr haben. Diese Türkei entwickelt sich zu einer kranken Diktatur und täglich werden dort Menschen gefoltert, verhaftet, aus der Arbeit aus politischen Gründen entlassen oder offen diskreminiert. Kurdische Busse mit kurdischen Namen wie Diyarbakir, Tunceli oder Mus sind schon von wütenden Flash-Mobs angegriffen worden. Oft schützt die Polizei die Angreifer auch noch. Hier muss Klartext geredet werden, so ein Land gehört nicht zu Deutschland oder Frankreich - das ist eine üble Diktatur. Und dass die Gegner im Parlament verhaftet werden, ist doch der beste Beweis, dass es keine Demokratie mehr ist.

  • Es kann nur eine Lösung geben:

    schärfste Sanktionen gegen Erdogan und seine Führungsmannschaft, wie gegen die Diktatoren Putin und Assad - und sich vorbereiten auf die Aufnahme weiterer Flüchtender aus der Türkei.

     

    Jegliche Kooperation mit Erdogan beenden und diese Kriegsführung nicht weiter unterstützen.

  • Was hätte die Türkei nach dem Putsch gebraucht, dass die Entwicklungen anders verlaufen wären? Hätte es etwas gegeben, was den Lauf der Dinge aufhalten hätte können? Ich stell mir diese Frage und bekomme keine Antwort. Was ich aber weiß, ist dass die Europäer und allen voran Deutschland sich frühzeitig als Lösungshelfer selbst verabschiedet hat - sich selbst einen Maulkorb verpasst hat, wegen des Flüchtlings-Deals und damit in diesem Konflikt nicht hilfreich sein konnte. Vielleicht hätten die Türkei einen Vermittler gebraucht? Vielleicht war der Verlauf in den Machtpolitkern der Türkei aber schon so starr vorgezeichnet, dass es kommen musste, wie es kam. In jedem Fall trägt Europa/D Mitverantwortung.

  • Man kommt leider nicht umhin den Westen wieder zu kritisieren, da er seine Kommunikationspflicht nicht wahrgenommen hat und nun vor einem diplomatischen Scherbenhaufen steht; ohne Einfluss, ohne Akzeptanz.

    Es ist immer schlecht seine eigenen Wertmaßstäbe über die jedes anderen zu stellen, diese wie ein arroganter Oberlehrer zu verkünden und sich dann zu wundern, wenn die Schüler einem auf den Kopf spucken.

     

    Nix gelernt aus dem Urkaine - Putin-Desaster, nix aus den Aktionen im nahen Osten und China gibt die nächste Katastrophe so wie es aussieht.

    Und wenn Trump gewinnt werden wir denke ich eine Mauer im Atlantik bauen; denn der hat was gegen Frauen ab 35 gesagt....

  • Erdogan profiliert sich in einem patriarchalisch strukturierten Land als starker Mann. Das tut er, weil er selber so erzogen wurde und seine Wähler das von ihm erwarten. Er ist also, bei aller Despotie, ein echter Volksvertreter. Welchen Grund hätte er, den Frieden zu wollen?

     

    In der Welt Erdogans und seiner Anhänger ist Stärke an Gewalt gekoppelt. Wer Frieden sucht, ist nur ein Schlappschwanz und kein Mann. Gut möglich also, dass Erdogan die Türken in einen Bürgerkrieg führt. Und wenn sein "Kurden-Problem" erst einmal in seinem Sinne gelöst ist, wird er sie vermutlich in den Krieg führen. Er wäre nicht der erste, der so etwas tut und sich dabei als "guter Patriarch" begreift.