Kommentar Erdogans Sittenpolizei: Macht und Realitätsverlust
Geschlechtertrennung, Alkoholverbot, Polizeigewalt: Teile der türkischen Gesellschaft sind von Erdogan irritiert. Sein Allmachtswahn wird ihn entthronen.
W ar das der Tropfen, der das Fass nun zum Überlaufen bringt? Seit der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan vor einigen Tagen beschloss, Geschlechtertrennung unter Studenten und Studentinnen rigoros durchzusetzen, und auch nicht davor zurückschreckt, Polizei in Privatwohnungen zu schicken, fragt sich die türkische Öffentlichkeit, ob ihr Regierungschef nun endgültig den Kontakt zur Realität verloren hat.
Während ein harter Kern fundamentalistischer Anhänger Beifall klatscht, ist der größte Teil der Gesellschaft, auch ein großer Teil seiner eigenen Partei, mehr als irritiert über den neuerlichen Vorstoß Erdogans in die Privatsphäre der Gesellschaft.
Der Allmachtswahn des mittlerweile über zehn Jahre regierenden Islamisten kennt keine Grenzen mehr. Den Frauen schreibt er vor, wie viel Kinder sie bekommen sollen, den Erwachsenen, was sie trinken dürfen – nämlich Ayran statt Alkohol, und der Jugend, wie sie sich sittsam zu verhalten hat.
Doch der Aufstand rund um den Gezipark im letzten Sommer hat seine Gegner zusammengeschweißt, immer mehr einstige Anhänger haben von ihrem früheren Hoffnungsträger die Nase voll, und selbst engste ehemalige Weggefährten wie sein Stellvertreter Bülent Arinc und Präsident Abdullah Gül beginnen, sich von Erdogan abzusetzen.
Nach zehn Jahren als Regierungschef, von denen er die letzten fünf unangefochten autokratisch durchregierte, scheint Erdogan nun zu glauben, er könne das ganze Land einzig nach seinem Willen und seiner Vorstellung formen. Doch das ist mit der türkischen Gesellschaft längst nicht mehr möglich. Erdogan wird über kurz oder lang an seiner eigenen Hybris scheitern, wenn nicht schon bei den Wahlen im kommenden Jahr, dann während seiner Präsidentschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja