Kommentar Ende der Nationalstaaten: Für eine wahre Union
Nur ein wirklich demokratisches, konsequent nachnationales Europa hat Zukunft. Euroland könnte so zu einem Magneten werden.
E uropa ist in einem unproduktiven Widerspruch gefangen: Das derzeitige System der EU, die institutionalisierte Blockade europäischer Politik durch die stete Rücksicht auf die Fiktion nationaler Interessen, kann nicht die Lösungen hervorbringen, die der Euro zum Überleben braucht. Aber das System ist auch nicht in der Lage, sich zu reformieren. Wo der Weg zu politischen Lösungen versperrt ist, regiert die Technostruktur, wächst der Unmut der Bürger und zeigen die Umfragen, dass die Wähler in Scharen zu den populistischen Parteien überlaufen.
Der Euro als erste transnationale Währung der Moderne war eine kühne Entscheidung. Der Euro garantiert den Wohlstand Europas und auch Europas Souveränität im globalen Kontext. Doch ohne die Überwindung der nationalstaatlichen Strukturen innerhalb der Eurozone wird der Euro nicht zu halten sein. Denn der Euro ist eine transnationale Währung ohne transnationale Demokratie.
Diese nachnationale Demokratie für die Eurozone zu gestalten ist die Aufgabe der nächsten Dekaden, wobei vor allem der Begriff der Solidarität nicht mehr an den veralteten Begriffen von Nationalstaatlichkeit und nationaler Souveränität gekoppelt sein kann. Es geht um die Erfindung einer europäischen DemoIkratie mit großem I. Es geht um die Organisation einer europäischen Zivilgesellschaft. Es geht um die Dehomogenisierung von nationalen Diskursen. Die deutsche Meinung gibt es ebenso wenig wie die französische, die finnische oder die portugiesische.
Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist Politikwissenschaftlerin. Derzeit beschäftigt sie sich für die Open Society Initiative for Europe mit Ideen für die Zukunft der europäischen Demokratie.
Robert Menasse, Jahrgang 1954, ist ein österreichischer Schriftsteller und Essayist und derzeit Fellow der Mercator Stiftung. 2012 erschien von ihm im Verlag Paul Zsolnay „Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss“.
Die komplette Fassung des Manifests der Autoren
.Das Bestehen auf der Fiktion nationaler Interessen innerhalb einer nachnationalen Entwicklung produziert diesen unproduktiven Widerspruch, der zu keiner vernünftigen Synthese führen kann, bei der die zivilgesellschaftliche Stimme und die Interessen der Bürger aber meistens zu kurz kommen.
Sind wir bereit?
Es geht darum zu erkennen, dass nationale Demokratie so nicht mehr, aber europäische Demokratie so noch nicht funktionieren kann. Und damit geht es um die einzig wichtige Frage, die allen europäischen Bürgern und nicht den Staaten gestellt werden muss: Sind wir bereit und willens, ein wirklich demokratisches, das heißt konsequent nachnationales Europa zu entwickeln? Sind wir bereit, auf der Grundlage des Gleichheitsprinzips der europäischen Unionsbürgerschaft – beginnend mit der Eurozone – ernsthaft zum Beispiel über eine europäische Arbeitslosenversicherung zu diskutieren? Oder über gleichwertige europäische Arbeitsbeziehungen, die den schon längst existierenden, transnationalen Sozialzusammenhängen entsprechen? Sind wir bereit, über gemeinsame Steuern und gleiche Bemessungsgrundlagen zu sprechen?
Würde man Euroland als gemeinsame Volkswirtschaft verstehen, was es längst ist, dann könnte über Transfersysteme nachgedacht werden, die einen Finanzausgleich von einem immer bevorzugten Zentrum zu einer immer benachteiligten Peripherie herstellen würden; oder von städtischen zu ländlichen Regionen, die heute staatenübergreifend von Strukturproblemen betroffen sind.
So ist auch der Begriff Export innerhalb der Eurozone irreführend, bestimmt aber derzeit die Diskussion über die Handelsungleichgewichte. Ebenso wenig wie Exporte zwischen Hessen und Brandenburg gemessen werden, so wenig sollten dies zwischen Deutschland und Spanien Fall sein. Es gibt eine in 18 Staaten gültige einheitliche Währung, aber weiterhin 18 nationale volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und nationale Haushalte, die der Souveränität der nationalen Parlamente unterliegen.
Unproduktiver Widerspruch
Das ist der unproduktive Widerspruch, der nur eines produzieren kann: Krise! Euroland ist längst Binnenland, nur eben im (sozial)politischen Raum der nationalen Parlamente und Staatshaushalte noch nicht. In der bisherigen Euro-Governance-Struktur müssen die einzelnen nationalen Volkswirtschaften etwa mit Blick auf Produktivität, Export oder Wachstum gleichsam „gegeneinander antreten“: den Staaten werden detaillierte Ziele für Wachstum vorgegeben, die sie auf ihre Art und Weise erreichen sollen, ohne dass aber innerhalb der Eurozone ein einheitlicher ordnungspolitischer Rahmen gegeben ist, zum Beispiel bei der Steuer- oder Sozialpolitik. Es kann nicht funktionieren! Die Eurozone braucht eine europäische Ordnungspolitik!
In Anlehnung an die Vorschläge der Glienicker und Eiffel-Gruppe sowie an das Manifest von Thomas Piketty für eine politische Union könnte so ein zukunftsfähiges Konzept für die Eurozone aussehen, dem die anderen EU-Staaten sukzessive beitreten könnten: Die Eurozone verfügt über ein gemeinsames Budget von etwa drei bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone. Es gibt eine europäische Arbeitslosenversicherung. Der europäische Rettungsschirm ESM wird zu einem europäischen Finanzministerium, dem ein Eurozonenparlament gegenübersteht, das Initiativrecht und volles Budgetrecht erhält.
So könnte die Eurozone zu einem kräftigen Magneten für die anderen Länder der Europäischen Union werden, die dieser Eurodemokratie mit der Zeit beitreten können. Einer starken europäischen Legislative stünde eine europäische Exekutive gegenüber. Das demokratische System der Eurozone würde sich in Richtung Gewaltenteilung mit einem parlamentarischen Zweikammersystem bewegen. In einem solchen Aufbau wäre die europäische Demokratie endlich horizontal angelegt: europäische Legislative versus Europäische Exekutive. Er wäre nicht mehr vertikal: Nationalstaat versus Europa.
Sind wir bereit, den europäischen Schatz der Französischen Revolution ernst zu nehmen, der da sagt: Liberté, Egalité, Fraternité? Sind wir bereit, durch eine europäische Demokratie den Gleichheitsgrundsatz endlich zu verwirklichen, also die ungleich mächtigen Nationen Europas zu überwinden, die den Bürgern Europas ungleiche Chancen geben? Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken, wohin wir die europäische Idee im 21. Jahrhundert weiterentwickeln wollen, wenn sich das bisherige System endgültig systemisch erschöpft haben wird!
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