Kommentar EU-Selbstzensur und Türkei: Völkermord, war da was?
Um sich Erdoğans Wohlwollen zu sichern, wird nun auch noch der Völkermord an den Armeniern verschwiegen. Das ist beschämend.
B undeskanzlerin Angela Merkel ist zufrieden mit der türkischen Regierung. Erstklassige Arbeit bei der Unterbringung syrischer Flüchtlinge bescheinigte sie Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu nach ihrem Kurzbesuch an der syrisch-türkischen Grenze am Samstag. Auch über Pressefreiheit wurde bei dem Treffen mit Davutoğlu gesprochen, wie immer bei solchen Besuchen allerdings ohne konkretes Ergebnis.
Zu Recht schließen die türkischen Kollegen daraus, dass sich Merkels Engagement für Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei in engen Grenzen hält. Aber Merkel und die EU insgesamt tun ja noch weit mehr, um sich das Wohlwollen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu erhalten. Sie schweigen nicht nur zum Demokratieabbau in der Türkei, sie lassen sich auch ihr Verhalten im eigenen Land vorschreiben.
Jüngstes Beispiel ist ein Projekt der Dresdner Sinfoniker. Die Musiker haben zusammen mit armenischen und türkischen Kollegen ein Konzert eingespielt, das der Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern gewidmet ist. Die EU fördert das Projekt finanziell. Auf türkischen Protest hin hat sie jetzt den Hinweis auf das Projekt von ihren Websites gestrichen – und das Orchester gebeten, im begleitenden Text den Begriff „Völkermord“ nicht mehr zu verwenden.
Seit nunmehr 100 Jahren weigert sich die Türkei, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord anzuerkennen. Ausgerechnet gestern, am 101. Jahrestag des Völkermordes, wurde die Selbstzensur der EU bekannt. Zuvor war schon der deutsche Botschafter in Ankara einbestellt worden, weil Sachsen-Anhalt an seinen Schulen Unterrichtsmaterial zum Thema Völkermord verteilt hatte. Die Türkei will seit Langem verhindern, dass an deutschen Schulen über den Völkermord an den Armeniern gesprochen wird. Bislang ist ihr das auch weitgehend gelungen.
Noch beschämender: Seit einem Jahr liegt ein Entschließungsantrag auf Eis, mit dem der Bundestag den Völkermord als historische Tatsache anerkennen will. Nach dem bisherigen Verhalten der Bundeskanzlerin gegenüber Erdoğan steht zu befürchten, dass die Resolution auch in diesem Jahr nicht verabschiedet werden wird. Obwohl sich ausnahmsweise alle Fraktionen einig sind – und der Schritt historisch lange überfällig ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich