Kommentar Deutsche Einheit: Differenzen anerkennen
Der Jahresbericht zur deutschen Einheit spiegelt wieder, wie tief die Narben gegenseitiger Vorwürfe noch sind. Was hilft? Zuhören!
V ielleicht versteht man die Lücke, die noch immer zwischen Ost und West existiert, am besten, wenn man auf die Frauenbewegung schaut. Nach dem Mauerfall hatten Feministinnen beider Länder die feste Absicht, sich zu vereinen und eine starke Bewegung zu werden. Aber recht schnell stellten sie fest, dass sie weder die gleiche Sprache sprachen noch dieselben Ziele hatten.
Während Ostfrauen sich als weitgehend gleichberechtigt gegenüber den Männern empfunden hatten und den Kampf um Gleichstellung nicht so stringent verfolgten wie Westfrauen, waren diese enttäuscht über so wenig Biss der ostdeutschen Schwestern. Was folgte, waren Vorwürfe, gegenseitiges Unverständnis und eine große Sprachlosigkeit.
All das konnte bis heute nicht gänzlich aufgelöst werden – gesamtgesellschaftlich. Die Wucht von Zuschreibungen wie „Besserwessi“ und „Jammerossi“ ist offensichtlich größer, als sich das die meisten Menschen im Land wünschen.
Da ist es egal, dass die einst staubigen Dorfstraßen in Mecklenburg-Vorpommern seit Jahren sauber betoniert sind. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, dass viele Sachsen seit Jahren in Bayern Karriere machen und nicht von morgens bis abends wehklagen.
Leistungen aufwerten, Unterschiede anerkennen
Wie tief die Narben der einst zugefügten Verletzungen sind, spiegeln der Jahresbericht zur deutschen Einheit und die Debatte dazu am Donnerstag im Bundestag wider. Politiker*innen aus dem Westen blieben der Plenarsitzung weitgehend fern, ostdeutsche Abgeordnete forderten das, was sie seit Jahren beanspruchen: gelebtes Leben in der DDR ernst nehmen, Leistungen aufwerten, Unterschiede zwischen Ost und West anerkennen.
Was spricht dagegen, Differenzen stehen zu lassen? Diversität, das zeigen mittlerweile viele Wirtschaftsstudien, ist gewinnbringend für Unternehmen. Warum sollte das nicht auch auf die Republik und ihre Menschen zutreffen?
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Ost- und Westdeutsche einander zuhören, sich gegenseitig akzeptieren und sich positiv aufwerten.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott