piwik no script img

Kommentar BarrierefreiheitMan wird behindert

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Behinderte stoßen überall auf Barrieren – besonders in den Köpfen der Politiker. Es braucht ein radikales, umfassendes Teilhabegesetz.

Rollstuhlfahrer in der Öffentlichkeit: mehr Schatten als Licht Foto: dpa

E s gibt Dinge, die machen einen rasend. Bordsteinkanten zum Beispiel. Oder diese pittoresken Treppenstufen vor nahezu jedem Altbau. Als Fußgänger hüpft man ja gern darüber weg. Aber man muss nicht einmal versuchen, sich in die Lage eines Rollstuhlfahrers, einer Blinden hineinzuversetzen – das klappt eh nicht. Es reicht schon, eineN von ihnen im Alltag zu begleiten, schon kocht man vor Wut.

Denn plötzlich tun sich überall Hürden auf. Die Stufe vor der Lieblingskneipe. Die Treppe in den Kinosaal. Die zugeparkte Bordsteinabsenkung. Der Weg hoch in die eigene Wohnung. Man wird: behindert. Nicht weil man seine Körperteile nicht so benutzen kann wie andere. Sondern weil sich an viel zu vielen Orten viel zu wenig Gedanken darüber gemacht wurden, wie Behinderte sich dort bewegen sollen.

Das ist letztlich nicht überraschend, denn das mit dem Hineinversetzen in die Rolle des Rollifahrers – siehe oben – ist schwer. Und selbst wenn ein Nichtbehinderter alle möglichen Wünsche des Rollstuhlfahrers beachtet, vergisst er doch die speziellen Bedürfnisse der Tauben, Blinden, Amputierten, Spastiker.

Genau deshalb braucht es ein Teilhabegesetz, das in aller Radikalität Vorgaben macht. Nicht nur, wie derzeit geplant, für Behörden, Schulen, Bahnhöfe, sondern gerade auch für privat errichtete Häuser und für alle neuen Geschäfte.

Man muss und kann nicht jeden Altbau umrüsten. Doch jede neu angelegte Stufe, jede zu schmale Tür, jede vergessene Behindertentoilette bedeutet mindestens 50 weitere Jahre ein unüberwindbares Hindernis. Und davon gibt es wahrlich genug.

Die größte Barriere ist immer noch das Brett vorm Kopf der Politiker

Ja, das ist mit Kosten verbunden. Ja, es überrascht wenig, dass Privatinvestoren jammern. Ja, vielleicht kann man da über finanzielle Unterstützung durch den Staat nachdenken. Aber wirklich hilfreich ist nur eins: ein Teilhabegesetz, das barrierefreies Bauen als Normalzustand festschreibt. Schließlich kann es spätestens im Alter jeden von uns auch persönlich betreffen. Und wer unbedingt dennoch Barrieren bauen will, kann sich das dann ja gesondert genehmigen lassen.

Die größte Barriere in Deutschland ist leider immer noch das Brett vorm Kopf der verantwortlichen Politiker. Aber man muss die Dinge positiv sehen: Nimmt man das Brett erst mal ab, wird daraus schnell eine Rampe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Unsere Tochter , geb. 1973, seit Geburt spastisch, ist mit uns ( aus beruflichen Gründen ) 7 mal innerhalb Deutschlands - jedesmal in eine andere Stadt/Bundesland - umgezogen.

    Jedesmal wurden von den/für die "zuständigen Behörden" endlose Fragebögen, Untersuchungen durch Ärzte und/oder MDK-"Amtsärzte" , Arbeitsämter, Versorgungsämter, etc. etc. gefordert , als wäre sie "gerade neu geboren". Nur mit extremer "Eigenbeteiligung" von Eltern und Freunden hält man/frau das über 40 Jahre aus , ohne zum "Wutbürger" zu werden.!

    Ein Dank gilt aber auch den - leider sehr wenigen - Menschen bei Behörden und Institutionen etc. in dieser " föderalistischen Kontrollkette", die dazu beigetragen haben , daß unsere Tochter heute, mit 42 Jahren , ihr weitgehend "eigenes" Leben führen kann.

    "Politik" subventioniert indirekt Autofirmen zum Bau von E-Autos.

    Ein solcher "Erfolg", wenn es denn überhaupt einer wird, wäre meßbar.

    Investitionen in eine barrierefreie,

    PRIVATE Umwelt wohl eher nicht...

    Ich weiß, wovon ich rede. Da nützt auch nicht Ihr Ausdruck des Bedauerns,, Frau Nahles !

  • Danke für diesen Kommentar, auch wenn ich ihn natürlich etwas zu krass finde.

    Aber da ich sehr häufig mit Menschen mit körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen zu tun habe, kenne ich das Problem bestens. So ist es für Menschen mit Gehbehinderungen (das sind nicht nur Rollstuhlfahrer) hier in Südbaden teilweise unmöglich am Bahnhof das mittlere Gleis zu nutzen, da es hier nur eine schmale und sehr steile Treppe gibt. Das ist zwar seit Jahren grundsätzlich verboten, interessiert die Bahn aber überhaupt nicht. Anderorts gibt es zwar Rollstuhl/Fahrrad-Rampen, diese sind aber auf der falschen Straßenseite, so dass diese Menschen über eine dicht befahrene Bundesstraße (natürlich ohne Ampel, Zebrastreifen oder ähnlich "überflüssiges") dürfen um zum Bahnhofsgebäude zu kommen.

    Aber leider muss man auch sagen, in Zeiten in denen wieder verstärkt Bürgersteige so zugeparkt werden, dass man noch nicht mal ohne Kinderwagen mehr durchkommt, man auf Bürgersteigen auch mal gerne fast überfahren wird, weil die Leute glauben, dass sie gefälligst Vorrechte zu haben haben, wird das Thema weiterhin kein Thema sein.

  • Ein guter kommentar, vielen Dank! Aber schade, dass Herr Asmuth auch von "Behinderten" schreibt, nicht von Menschen. Menschen mit Behinderung.

    • Gereon Asmuth , Autor des Artikels, Ressortleiter taz-Regie
      @Timm Berlin:

      Ja, ich kenne die Bedenken gegen die Bezeichnung "Behinderte". Im Sinne meines Kommentares halte ich an dieser Stelle das Wort "Behinderte" allerdings für treffender. Nicht weil Menschen mit (und ohne) Behinderung behindert sind, sondern weil sie - von anderen - behindert werden.

      • @Gereon Asmuth:

        Herr Asmuth,

        auch wenn mein Beitrag spät kommt: die Diskriminierung wird nicht weniger, wenn sie von Ihnen ausgeht, auch wenn ich Ihrem Gedankengang folgen kann. Wir sind behinderte Menschen, damit wird auf den Punkt gebracht, dass wir Menschen sind, die behindert werden.

         

        So lange die JournalistInnen der taz sich nicht selbst von diskriminierender Sprache distanzieren, leidet deren Glaubwürdigk, sie würden sich ernsthaft für Teilhabe, Inklusion, etc. einsetzen.

         

        Es gibt übrigens passendere Bilder, um einen tatsächlichen Missstand aufzuzeigen. Das Bild zeigt nämlich keinen.

  • auch für jeden elternteil von mehrlingen, welcher es wagt arzttermine etc mit einem gigantischen kinderwagen bestreiten zu wollen, wird dieses dilemma spätestens dann überdeutlich.... kinder, menschen mit körp./ see. Beeinträchtigung, alte, kranke.....ihr werdet behindert!

  • Auch wenn es (noch?) sehr unpopulär ist und vielen unverhältnismäßig erscheinen wird:

    Elektrohypersensibilität sollte als Behinderung mit Anspruch auf Barrierefreiheit anerkannt werden.

    Der Unterschied zur Elektrosensibilität besteht darin, daß es dabei nicht um eher leichte Symptome wie Unwohlsein, Kopfschmerzen

    Verlust von Konzentrationsfähigkeit usw., geht, sondern um starke Schmerzen und Krämpfe, Ohnmachtsanfälle, Schlaganfall, Herzattacken,

    kurz um Symptome geht, die eine Teilnahme an öffentlichem Leben, Verkehrsmitteln, Restaurants, Hotels, Theater, Konzert, unmöglich machen.

    Über die Frage, was hier Barrierefreiheit bedeuten würde, kann man ja mal kurz nachdenken.

    • @Jonagold:

      Wie sollte man das aber umsetzen? Ähnlich wie bei Agoraphobie bleibt man letztendlich auf einen geschützten Bereich beschränkt.