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Autorin über Inklusion„Ein behindertes Kind irritiert“

Mareice Kaisers erste Tochter kam mit mehrfacher Behinderung zur Welt. Über die Herausforderungen eines inklusiven Alltags hat sie ein Buch geschrieben.

„Es gibt viele Barrieren in den Köpfen“, sagt Mareice Kaiser Foto: Carolin Weinkopf
Interview von Uta Schleiermacher

taz: Frau Kaiser, Berlin als besonders offene und fortschrittliche Stadt – stimmt das für ein Leben mit einem behinderten Kind?

Mareice Kaiser: Dazu fällt mir als Erstes unsere Suche nach einer integrativen oder im besten Fall inklusiven Kita ein. Es gibt in Friedrichshain-Kreuzberg ungefähr 240 Kitas, etwa die Hälfte betreut auch Kinder mit Behinderungen, nur 50 arbeiten integrativ. Ich habe alle, die infrage kamen, durchtelefoniert, eine Handvoll hat dann gesagt, wir könnten mal vorbeikommen, aber es sei eher schwierig, gerade mit einem mehrfach behinderten Kind. Das zeigt ja schon mal, wie wenig inklusiv und barrierefrei Kreuzberger Kitas sind.

Vorher hatten Sie in Hamburg gelebt, warum sind Sie nach Berlin gezogen?

Aus Hamburg sind wir weggezogen, weil wir keine bezahlbare Wohnung für vier Personen gefunden haben. Ich habe früher in Berlin gelebt und hatte Heimweh, dann habe ich auf Anhieb eine Wohnung in meinem alten Kiez gefunden. Mit dem Umzug wollten wir auch mit der schweren Zeit am Anfang abschließen und noch mal neu anfangen.

Auf welche Barrieren ist Ihre Familie gestoßen?

Es gibt viele Barrieren in den Köpfen. Ein mehrfach behindertes Kind irritiert. Überall. Weil behindertes Leben für Menschen ohne Behinderungen nicht dazugehört und weil wir eben nicht in einer inklusiven Gesellschaft leben. Wir haben dann ja eine Kita gefunden, in der wir mit offenen Armen empfangen wurden. Dort habe ich auf jeden Fall so etwas wie eine inklusive Haltung gespürt, auch in der Zusammenstellung der Familien mit Kindern aus unterschiedlichen Herkunftskulturen und aus Regenbogenfamilien.

Sie schildern vieles aus einer Einzelkämpferperspektive. Ist das Netz von Beratungsangeboten tatsächlich so löchrig?

Es gibt Beratungsangebote, das Problem ist aber, dass die nicht zu dir kommen, sondern dass du zu denen kommen musst. Mit einem schwer mehrfachbehinderten Kind hast du andere Sachen zu tun, als dich um Hilfe zu kümmern. Gleichzeitig muss man erst lernen, dass man Hilfe annehmen darf. Viele ziehen sich erst mal zurück, oft ist auch Scham dabei. Und du gehst halt nicht so leicht raus wie mit einem nichtbehinderten, nicht pflegebedürftigen Kind. Wir hatten eine Sauerstoffflasche, die meine Tochter brauchte, einen Monitor, der piepste, Sachen für Darmspülungen.

Im Interview: Mareice Kaiser

■ Jahrgang 1981, Journalistin und Autorin. Seit 2014 schreibt sie auf dem Blog kaiserinnenreich.de über Inklusion und Leben mit Behinderung, seit dem Tod ihrer Tochter auch über Trauer. In ihrem Buch „Alles Inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ erzählt sie mit Ernst und Humor vom Alltag zwischen Krankenhaus und Kita. Sie reflektiert Fragen zu Inklusion, Geschlechterrollen, Pränataldiagnostik, Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

■ Das Buch: Am 24. November 2016 erscheint „Alles Inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ von Mareice Kaiser, Fischer, 288 Seiten, 14, 99 Euro

Die Lesung: Buchpremiere und Gespräch mit der Autorin am Donnerstag um 19.30 Uhr im taz Café

Sie beschreiben auch, dass es viel mit Privilegien zu tun hat, was man bekommt.

Ja, zum Beispiel bei dem Geschwisterwagen, den wir beantragt haben. Meine große Tochter brauchte einen Reha-Buggy, weil sie nicht allein laufen konnte, und die kleine konnte auch noch nicht so lange laufen. Ein Geschwisterwagen ist aber nicht vorgesehen in den Krankenkassengesetzen. Unser Berater meinte, das könnten wir vergessen. Ich hatte schon ein paar Jahre Erfahrung und dachte immer, wenn ich das nicht durchkämpfe, macht es keiner. Vielleicht können andere davon profitieren. Beim zweiten oder dritten Widerspruch haben wir den Wagen bekommen. Jetzt ist es eine lustige Anekdote, aber es ist eigentlich total traurig, dass Menschen, die eh schon in sehr schwierigen Situationen sind, sich solchen Kämpfen aussetzen müssen. Mich hat das viele Nerven und viel Zeit gekostet.

Diese Erfahrungen haben Sie auf Ihrem Blog weiterverbreitet; welche Reaktionen haben Sie darauf bekommen?

Ich habe gemerkt: Wir sind nicht allein. Es passiert nicht nur uns, dass Anträge von den Krankenkassen abgewiesen werden oder dass Ärztinnen und Ärzte so wenig empathisch mit einem umgehen. Da stimmt etwas im System nicht, und wenn wir uns darüber austauschen, können wir uns stärken. Im Internet kann man sich gut gegenseitig unterstützen. Bei meinem Blog ging es eher um einen emotionalen Austausch, aber es gibt auch Seiten, auf denen man sich Vorlagen für Widersprüche herunterladen kann.

Was müsste sich politisch noch tun?

Bei Inklusion ist abgesehen vom nicht inklusiven Blick oft das Geld das Problem. Das merkt man auch bei der Diskussion über inklusive Schulen. Alle wollen sie, aber wenn es dann darum geht, eine Rampe irgendwo zu installieren, ist kein Geld dafür da. Denen, die das zu entscheiden haben, fehlt der Blick für Menschen mit Behinderungen, wenn sie nicht selbst betroffen sind.

Sind denn die Probleme überall gleich?

In der Großstadt gibt es schon mehr Möglichkeiten. Gleichzeitig finde ich es paradox, dass Berlin so tut, als wäre es eine Weltstadt, aber mit einem Rollstuhl kommst du keineswegs überallhin. Jedes zweite Café hat Stufen, die U-Bahn-Stationen sind nicht barrierefrei, die Fahrstühle immer kaputt. Ich kann mich mit meiner Freundin nicht überall treffen, weil sie nicht reinkommt mit dem E-Rolli. Aber gerade auch in Kreuzberg habe ich mehrere Lieblingscafés, bei denen ich weiß, dass die Haltung inklusiv ist. Da gibt es eine Rampe, und da ist es okay, wenn ich mein behindertes Kind auf der Toilette anspülen muss und es stinkt.

Werden Sie sich weiter für Inklusion engagieren?

Meine Tochter hat etwas mit mir gemacht, und das ist nicht weg dadurch, dass sie nicht mehr da ist. Ich habe einen anderen Blick bekommen und Freundinnen und Freunde mit Behinderungen, die ich vorher nicht hatte, die bleiben ja auch. Aktuell arbeite ich neben meiner Tätigkeit als Journalistin für einen Verein, Eltern beraten Eltern von Kindern mit und ohne Behinderungen. Dort arbeite ich seit einem Jahr an einem Projekt für geflüchtete Familien mit behinderten Kindern. Ich glaube nicht, dass mich das Thema irgendwann loslassen wird. Dass man das Leben nicht planen kann, wie wichtig Vielfalt in einer Gesellschaft ist, das weiß ich jetzt einfach und werde es weitertragen.

Wie ist es mit Selbstorganisation und Selbsthilfegruppen?

Ich wollte nie in einer Sonderwelt leben. Wir haben relativ schnell das zweite Kind bekommen, auch aus so einem Gedanken, dass das zusammengehen soll, dass nicht alles behindert ist, nur weil mein Kind behindert ist. Deshalb hatte ich kein großes Interesse an Selbsthilfegruppen. Ich finde schade, dass es dabei oft wenig um ein Miteinander geht, sondern meist um bürokratische Barrieren. Es gibt so viele lebenswichtige Sachen, die geklärt werden müssen, dass für die schönen kein Platz mehr ist. Man kommt oft nicht dazu, einen inklusiven Zirkusworkshop zu besuchen, es geht eher darum, dass die Kinder nicht in die Kita können, weil kein Pflegedienst zur Verfügung steht. Das ist vom System so gewollt, dass man kleingehalten wird.

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2 Kommentare

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  • Es gibt ja "viele Barrieren in den Köpfen“, weil die meisten Menschen es bereits als Kinder von ihren Eltern so lernen, dass sie die Behinderten kleinhalten dürfen. Ich finde, die Infrastruktur ist nicht alles: man kann alles barrierefrei umbauen, es geht aber auch darum, dass die Schwerbehinderten Freundschaften knüpfen könnten, dass sie nicht mehr als Außerirdischen wahrgenommen werden. Hier könnte die Einführung eines speziellen Unterrichts an der Schule helfen. Mir ist ganz gut bekannt, dass die relevanten didaktischen Materialien bereits zur Verfügung stehen, auch in Form von Filmen und anderen Medien, wie der Film "Inklusion" vom FWU Institut für Film und Bild https://www.fwu-shop.de/inklusion.html . Der Film fördert Auseinandersetzung mit Minderheiten allgemein, erzählt aber einige Geschichten von erfolgreichen Integrationen von Behinderten Menschen.

  • Da fällt mir spontan unser erster Aufenthalt in Osaka ein: Ich bemerkte nicht mehr Behinderte als hierzulande, nur blitzsaubere, beheizte, modernste kostenlose Sanitäranlagen - selbstverständlich barrierefrei - für alle möglichen Bedürfnisse, z.B. auch stillende Mütter, überall Rollstuhlrampen und zu jeder Bahn Aufzüge und Rollwege, gekennzeichnete Wege für Sehbehinderte, wo es hier nur Rolltreppen und Treppen gibt. Mir fiel auf, dass die Senioren ebenso wie Behinderte ganz selbstverständlich wesentlich selbstständiger agieren konnten. Und davon profitierten natürlich auch die Mütter mit den Kleinsten im Kinderwagen.

     

    Mir fiel unwillkürlich und schmerzhaft beschämt ein fast vergessener Begriff ein, der auch für unser Zusammenleben mit behinderten Kindern und ihren Familien gilt - und zwar nicht nur die öffentlichen Anlagen sondern auch unsere Vorstellung von Integration betreffend:

     

    Service-Wüste Deutschland!

     

    nach wie vor.............