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Kommentar AntisemitismusvorwürfeKurios, naiv, hilflos

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die Bank für Sozialwirtschaft will prüfen, ob die NGO „Jüdische Stimme“ antisemitisch ist. Deutsche darüber entscheiden zu lassen ist gefährlich.

Aktivist*innen der „Jüdischen Stimme“ vor dem Bundesjustizministerium in Berlin Foto: dpa

J e autoritärer Regierungen agieren, desto mehr müssen sie auf Abschottung gegen Kritik setzen. Diese Mechanik ist in Ungarn, Polen und Russland zu beobachten. In illiberalen Demokratien stehen stets NGOs, Intellektuelle und KünstlerInnen, die sich der Regierungskontrolle entziehen, unter Generalverdacht. In diese Richtung bewegt sich seit Längerem, in letzter Zeit rasant die israelische Regierung. Medien und Künstler werden in Israel an die Kandare genommen. Das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz degradiert arabische Israelis offiziell zu Bürgern zweiter Klasse.

Jizchak Herzog, Oppositionsführer und früher Minister unter Netanjahu, hat wohl recht mit der Diagnose, dass Israel an „Nationalismus erkrankt“ ist. Neuerdings versucht Netanjahu sogar Deutschland auf Kurs zu bringen. Die Bundesregierung solle gefälligst NGOs, die die Besatzung kritisieren, nicht unterstützen. Auch die exzellente Jerusalem-Ausstellung des Jüdischen Museums in Berlin geriet ins Visier, weil sie nicht nur die jüdische, sondern auch die arabische Sicht zeigt.

Dass die Bank für Sozialwirtschaft nun auf Druck rechter Israelis und Juden wissenschaftlich prüfen lassen will, ob die zionismuskritische Organisation „Jüdische Stimme“ offiziell antisemitisch ist oder nicht, verrät wenig Empfindsamkeit für deutsche Geschichte.

Deutsche befinden zu lassen, ob Juden als antisemitisch gelten, ist mehr als eine kuriose, zwischen Naivität und Hilflosigkeit schillernde Idee. Sie ist gefährlich, weil sie, wie die Verfasser des Protestaufrufs zu Recht bemerken, Netanjahus Spiel bedient, jede scharfe Kritik an der Besatzung als antisemitisch zu denunzieren.

Auch das jährliche Antisemitismus-Ranking des Simon-Wiesenthal-Centers ist der Versuch, alle Zweifel an der israelischen Regierung moralisch mit dem wahllosen Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs zu diskreditieren.

Nein, Kritik an Netanjahu ist kein Verrat an der Freundschaft mit Israel, im Gegenteil. Kritik ist der Sauerstoff der Demokratie. Nur ängstliche Regierungen fürchten sie so sehr, dass sie sich dagegen immunisieren müssen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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4 Kommentare

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  • Danke, Stefan Reinecke, das ist erfrischend und gibt mir ein wenig den Glauben an die taz zurück, nachdem ich mich bei der Tagung in Bad Boll schon selbst als gefährliche Antisemitin bezeichnet sah. Ich bin Jüdin in Deutschland mit familiären und freundschaftlichen Beziehungen zu Israel schon mein Leben lang. Mich dafür, dass ich die Augen vor der entsetzlichen Besatzungspolitik der immer gruseliger werdenden Regierungen in diesem schönen Land nicht verschließe, als selbsthassende Antisemitin bezeichnen zu lassen, beleidigt mich nicht nur, es macht mir Angst, weil ich mir gerade in Deutschland einen wachen Blick wünsche für den Hass gegen Juden, weil sie Juden sind, ebenso wir für jeden anderen Rassismus. Nun haben wir "Antisemitismusbeauftragte" (komisches Wort), die ihre jüdischen Mitbürgerinnen beaufsichtigen, ob sie sich nicht zu kritisch gegen Israels Politik äußern, statt sie zu schützen vor rassistischen Anfeindungen. Langer Rede kurzer Sinn: Danke für klare einfache, eigentlich selbstverständliche Worte. Viele israelische Freund*innen lechzen danach, dass diese Haltung hier endlich richtungsweisend wird!



    Schalom & Salam

  • Würde ich auch so sehen.

    Was mich aber belustigt hat, "In illiberalen Demokratien stehen stets NGOs, Intellektuelle und KünstlerInnen, die sich der Regierungskontrolle entziehen, unter Generalverdacht."

    Geht nicht gerade eine Partei, die in Deutschland die Kanzlerin stellt, mit Volldampf auf eine unbequeme NGO los, die nur die Einhaltung bestehender Gesetze einklagt?

    Prozessiert nicht das Bundesfinanzministerium gegen eine globalisierunskritische NGO um ihr die Gemeinnützigkeit abzuerkennen und so die finanzielle Grundlage?

    www.attac.de/neuig...ert-gegen-attac-1/

    Auf den Zug sind hier auch schon Regierungsmitglieder aufgesprungen.

  • "Kritik ist der Sauerstoff der Demokratie."



    Ich war letztes Jahr auf einer Demo gegen das NetzDG -



    ein Gesetz, mit dem sich auch die UNO schwertut.



    "Es gibt, kein Recht, auf Nazipropaganda" wurde lauthals skandiert:



    Kritik ja, aber nicht an Merkel und Maas!?

  • Dass man lesen kann, dass in dieser Zeitung differenziert über Kritik an israelischer Politik geschrieben wird, ist angesichts der Tatsache, dass der Konflikt von zentraler Bedeutung für die Krisen des Nahen Ostens ist, äußerst erfreulich. Es ist einfach unredlich, diese Kritik vorschnell als antisemitisch abzutun, wenn so viel auf dem Spiel steht und sie in weiten Teilen deckungsgleich mit der Kritik der israelischen Opposition ist.