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Kommentar Anschläge in der TürkeiErdoğans Kalkül muss nicht aufgehen

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Immer schärfer bekriegen sich PKK und Erdoğan. Die HDP sollte sich beiden verweigern – und könnte bei der Neuwahl für eine Überraschung sorgen.

Nach dem Anschlag in Istanbul: Polizisten sichern die Spuren Foto: dpa

D er Montag war besonders blutig in der Türkei. Bei Anschlägen in Istanbul und im kurdischen Südosten des Landes starben mindestens neun Menschen, Dutzende wurden verletzt. Mit den Anschlägen in Istanbul ist die Gewalt nun auch in den Metropolen im Westen des Landes angekommen. Es steht zu befürchten, dass das Attentat auf die Polizeistation im Istanbuler Vorort Sultanbeyli nicht das letzte in den Großstädten war.

Alle Aufrufe, die Waffen niederzulegen und zum Dialog zurückzukehren, sind, so scheint es jedenfalls, bislang von denen, die darüber zu entscheiden haben, ignoriert worden. Dabei wissen alle, dass der Konflikt zwischen der PKK und der Regierung mit Bomben auf PKK-Lager und Attentaten auf Polizei und Militär nicht gelöst werden kann. Früher oder später muss wieder verhandelt werden.

Der Zeitpunkt, wann das sein wird, hängt nicht von militärischen, sondern von politischen Erwägungen ab. Wenn in Ankara nicht noch ein kleines politisches Wunder geschieht, bewegt die Türkei sich auf Neuwahlen im Herbst zu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan will es noch einmal wissen, seiner Meinung nach war der Verlust der Regierungsmehrheit ein Betriebsunfall, der korrigiert werden muss.

Aber auch die PKK scheint mit der so stark gewordenen HDP und ihrem charismatischen Chef Selahattin Demirtaş ein Problem zu haben, sonst würde sie Erdoğan nicht so viele Gelegenheiten geben, Demirtaş als „Terroristen“ zu denunzieren.

Doch sowohl Erdoğan als auch die PKK-Führung könnten bei Neuwahlen eine Überraschung erleben. Die meisten türkischen WählerInnen, das zeigen die Umfragen, durchschauen das Kalkül. Wenn Demirtaş sich überzeugend von der Gewalt distanziert, auch von der der PKK, wird die HDP erneut über die Zehnprozenthürde kommen und Erdoğans AKP hätte wenig Chancen, die absolute Mehrheit zurückzugewinnen. Doch bevor es so weit ist, wird es vermutlich noch viele Tote geben.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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8 Kommentare

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  • Es steht noch einiges aus und ich bin mir sicher, dass das letzte Kapitel unter der AKP-Regierung noch nicht geschrieben ist. Es geht ums überleben eines "Führers".

  • Was hier vernachlässigt wird: Viele Kurden haben in der Vergangenheit AKP gewählt. Sie sind bei der letzten Wahl zur HDP gewandert, weil der blutige Sultan seinen Machtrausch immer ungenierter zelebrierte. Diese Leute, und viele Alewiten, werden HDP wählen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie über 15% kommt, ist gar nicht mal so klein. Erdogan könnte sich wieder einmal verrechnet haben. Er verspielt gerade allen Kredit aus den Erfolgsjahren. Nur die Faschisten werden ihn stützen. Dramatisch ist lediglich, wieviele Menschenleben sein Machtrausch noch kosten wird.

  • Die politischen Prozesse in der Türkei sind sehr komplex, und ihr Ausgang ist schwer vorherzusehen:

     

    Mit der harten Bekämpfung der PKK und der Kurden, versöhnt sich Erdogan wahrscheinlich mit Teilen der Gülen-Bewegung. Diese wollte immer die PKK militärisch niederkämpfen und war gegen Verhandlungen. Das mobilisiert wahrscheinlich Nicht-Wähler und holt Wähler von der rechtsextremen MHP zurück.

     

    Die CHP äußert sich angeblich relativ moderat, und gegen militärische Gewalt. Das könnte einerseits Wähler von der linken HDP zurückholen, aber andererseits die HDP legitimieren.

  • Erdogan Kalkül geht insofern auf, dass er die PKK wieder als Terrororganisation gekennzeichnet hat. Das wird ihm teilweise Genugtuung verschafft haben. Die Angriffe auf YPG- Stellungen hätte die PKK schier anklagend beantworten dürfen. So haben diese ihre jahrelange Metamorphose im Handstreich rückgängig gemacht. Es ist für mich eine große Enttäuschung; Die PKK tat das, was Erdogan sich erhoffte.

    • @lions:

      Die Dummheit der PKK stinkt zum Himmel. Sie verhält sich genau so, wie es sich Erdogan erhofft hat und verliert alle Sympathien. Allerdings fällt es auch Erdogan auf die eigenen Füsse, wenn die PKK wieder als reine Terrororganisation dasteht. Schließlich hat Erdogan jahrelang mit eben dieser Terrororganisation verhandelt und den Friedensprozess als Erfolg seines Regierungshandeln verkauft.

      • @vulkansturm:

        Das muss er nur "richtig" darlegen; Er hat alles versucht. Hat doch irgendwie den Anschein von Vernunft, oder ?

  • Kritische intelligente Wähler, nicht nur kurdische Wähler, werden Erdogans blutrünstiges Kalkül durchschauen und erst recht die HDP wählen. Das ist aber nur ein Faktor, der dafür spricht, dass sich Erdogan verrechnet. Ein zweiter Faktor ist, dass die AKP als regierende Partei von vielen Wählern, die einfach nur Frieden wollen, für das Chaos verantwortlich gemacht wird.

    Ein dritter Faktor ist, dass das Spiel mit nationalistischen Gefühlen und antikurdischen Ressentiments eher dem nationalistischen Original, der MHP nützen wird. Die Verkörpern den Kampf gegen die PKK einfach glaubwürdiger, während Erdogan jahrelang mit der PKK verhandelte. All zu offensichtlich ist es doch, dass rein wahltaktische Überlegungen zur Abkehr vom Friedensprozess führten.

    • @vulkansturm:

      wenn ich die stimmung in der bevölkerung dort so verfolge ist es eher so, dass die meisten türken erkennen, dass die pkk fortlaufend ein falsches spiel spielte und gewalt für sie durchgehend ein mittel der wahl war. und dass man als pkk auf die intern. linie einschwenkte, wonach die türkei unter der akp mit der isis gemeinsame sache mache, hat in der bevölkerung die sympathien für pkk und den pol. arm hdp nicht sonderlich vergrößert.