Kolumne Sternenflimmern: Bekenntnisse eines Überprivilegierten
Unser Autor hat nie gelernt, für Europa zu kämpfen. Doch jetzt gilt es, diese launische alte Kuh, die viel zu große Fladen macht, zu verteidigen.

F ahr in einem Bus in Richtung dieser schicksalhaften Zufälle, die das Leben bringt. Rausche in einen Zug ans Meer. Streck an der Straße den Daumen raus, nach Barcelona. Komm nie an. Einfach weg. Die Sonne zeigt mit goldenem Finger durch die Wolken: da hin. Dazu Lenny Kravitz. Fly away.
Es sind die späten 90er, ich bin weiß, deutscher Mittelstand, ziehe fort aus einem schwäbischen Kaff. Ich bin überprivilegiert. Der Kalte Krieg ist vorbei, und mir scheint es, als habe die Welt nur eine Richtung: Sie wird besser.
Ich habe einen Kontinent ohne Grenzen vor mir und gehöre zu einer Generation, die keine Unterdrückung kennt. In meiner Realität haben alle Eltern tarifvertraglich gesicherte Arbeitsplätze und am Ende der Welt gibt es Strände, an denen du bekifft im Sand liegen kannst. Unser Hip-Hop ist trivial: Deine Freundin ist weg und bräunt sich. Wir kämpfen für nichts.
Wem es so ging wie mir , der müsste jeden Tag dreimal gen Brüssel beten, zum Dank. Natürlich hatten auch Kleopatra, Rosa Luxemburg und Dwight D. Eisenhower ihren Anteil am Zustandekommen des Sziget-Festivals und was Europa sonst so brachte. Man trug Ché Guevera gern auf T-Shirts, weil Revolution romantisch ist.
Aber als Vorbild für Frieden taugen eher drei graue Säulen des Vertrags von Maastricht. Und dieser Haufen anonymer Bürokraten in Brüssel, die festlegen, wie stark eine Bohrmaschine rütteln darf. In drei Dimensionen. Mach daraus mal ein T-Shirt.
Genießen und ausruhen geht nicht mehr
Vielleicht war das der Höhepunkt an Freiheit in der Geschichte der Menschheit. Auch heute gibt es noch privilegierte Kids. Aber diese verheißungsvolle Leichtigkeit der Zukunft ist verschwunden. In den 90ern hatten andere die Probleme. Die Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, die Asylbewerber aus Äthiopien, die Rentner in Osteuropa.
Man konnte ihnen zurufen: Wir setzen uns dafür ein, dass ihr hier bei uns auf der Insel der Erlösten mitmachen dürft. Dann flog man nach Südamerika, half in einem Projekt für Straßenkinder und hatte viel zu erzählen. Aber der Kern Europas, mein Privileg, das schien unantastbar.
Heute nicht. Genießen und ausruhen auf dem Erbe, das andere erträumt und erkämpft haben, das geht nicht mehr. Zu viele nationalistische, xenophobe Schwachköpfe wollen das freie Europa zerstören. Zu viel Natur geht kaputt, die Lebensgrundlagen sind in Gefahr. Wenn zu viele die Freiheit Europas für selbstverständlich nehmen, dann verglüht sie.
Ich bekenne, ich habe nie gelernt, für dieses Europa zu ringen, es zu verteidigen. Und ich spreche von dieser EU, diesem Parlament, diesen Institutionen, nicht von einem Utopia-Europa. Was es zu verteidigen gilt, ist eine launische alte Kuh, die viel zu große Fladen macht. Ein unfertiges, krummes Haus. Das freiste Europa seit der letzten Eiszeit.
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