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Kolumne PsychoFür ein Verschleierungsverbot

Die Diagnose einer psychischen Krankheit ist kein Todesurteil. Im Zweifel hilft sie sogar beim Überleben. Also Schluss mit den Euphemismen!

Sind psychische Diagnosen das „dessen Name nicht genannt werden darf“? Foto: imago/Cinema Publishers Collection

M eistens ist es eine gute Idee, die Dinge beim Namen zu nennen. Etwa „Holocaust“ statt „Endlösung der Judenfrage“, „Menstruation“ statt „Besuch von Tante Rosa“ und „Klimawandel“ statt „Wetterextrem“. Denn auch wenn Donald Trump den Klimawandel nicht wahrhaben will – er wird nicht weggehen, nur weil Trump den Mitarbeitern des Agrarministeriums verbietet, das Wort zu benutzen und es mal eben durch ein anderes ersetzt.

Dinge verschwinden nicht einfach, indem man sie umbenennt. Genau wie Kinder beim Versteckspielen, die immer noch da sind, auch wenn sie sich die Augen zuhalten. Oder Lord Voldemort aus „Harry Potter“, dessen Umschreibung „Er, dessen Name nicht genannt werden darf“ seinen Gruselfaktor sogar noch steigert.

Meine Freundin Helen und ich streiten uns regelmäßig darüber, ob man psychische Störungen und Krankheiten explizit benennen sollte. Sie findet: nein. Sie argumentiert mit Schubladen, Stempeln und Stigmata. Erklärt, eine Diagnose könne erstens falsch sein und würde zweitens ihre persönliche Freiheit einschränken. Nur weil sie eine Depression habe, sei sie ja noch lange nicht wie alle anderen Depressiven. Ich sehe das anders. Weil Freiheit erst beginnt, wenn man die Fakten kennt. Zumindest ist das meine Erfahrung.

Ich verstand lange nicht, was mit mir los ist, konnte die Panikattacken nicht einordnen, hatte zwar eine diffuse Idee von diesem „Angstscheiß“, der mich immer wieder befiel, aber kein besseres Wort dafür. In vielen Situationen, in denen ich panisch war, spürte ich eine Distanz zu den Menschen in meinem Umfeld, die ganz anders reagierten als ich. Natürlich ging ich davon aus, dass sie normal sind und ich nicht, schließlich waren sie in der Mehrheit. Aber wenn sie normal waren, was war dann ich? Irre? Verrückt? Übergeschnappt?

Was für eine Erleichterung, als ich endlich die Diagnose bekam: Angststörung. Auf einmal wurde der Schatten greifbar. Auf einmal konnte ich anderen Menschen mitteilen, was mit mir los ist. Konnte mich informieren und fand heraus: Ich bin nicht allein. Und vor allem: nicht verrückt.

Wer verschlüsselt kommuniziert, darf sich nicht wundern, wenn in der Folge Gerüchte kursieren und Leute auf Distanz gehen

Es hilft niemandem, um den heißen Brei herumzureden. Wenn ich mich um das Wohlergehen einer Person sorge, muss ich wissen, was mit ihr los ist. Die Diagnose einer psychischen Krankheit ist kein Todesurteil, auch kein gesellschaftliches. Im Zweifel hilft sie einem sogar, zu überleben.

Denn was soll ich mit der Information anfangen, dass Hans „in einer anderen Welt lebt“? Fragen, ob dort noch Platz für uns ist, wenn die „Wetterex­treme“ überhandnehmen? Was damit, dass Antje „manchmal so Phasen hat“? Hat sie die einmal im Monat, während sie blutet, oder ist sie vielleicht depressiv? Und die „wunderliche“ Kirsten – hat sie einfach nur ein Interesse an Esoterik oder eine soziale Phobie?

Wer derart verschlüsselt kommuniziert, darf sich nicht wundern, wenn in der Folge Gerüchte kursieren und Leute auf Distanz gehen.

Ich plädiere deshalb für ein Verschleierungsverbot. Für Worte, nicht für Menschen.

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taz am wochenende
Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).
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24 Kommentare

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  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Verschleiernde Sprache ist doch ein Wesensmerkmal politisch korrekter und gendergerechter Sprache. Wie denn nun? Doch wieder Klartext?

  • Mich hat dieser Artikel ein wenig erschreckt. Nicht dass ich jedem eingestehe, sich so zu labeln, wie er es möchte. Einige von den Menschen, die sich bei uns organisiert haben,von uns begleitet werden, benennen sich als psychisch krank; andere bestehen auf eine Realität, die schwer nachvollziehbar ist. Zwischen diesen beiden Polen liegen unzählige individuelle Erklärungsmuster für individuelles Anderssein. Und soweit unterschiedliche Erklärungsmuster andere Menschen nicht einschränken, unterstützen sie nach unserer Erfahrung am ehesten individuelle Veränderungswünsche. Der "Eiertanz" bezüglich weichgespülter Erklärungsversuche vorrangig seitens der "Normalen", was immer das ist, halte ich für ein Ergebnis fehlender Begegnungen mit dem Anderssein; ein Ergebnis fehlender Inklusion. Ich möchte, dass man*frau mir ehrlich begegnen, damit ich eine Möglichkeit habe, ehrlich zu antworten. Das die Fremd-Bezeichnung "psychisch krank" kein Stigma darstellen soll, ist eine gut bürgerlicher Luxus, den man*frau sich leisten können muss. Mit der Aussagen "Verschleierungsverbot" werden viele Menschen, die durch die Besetzung des Labels "psychisch krank" gesellschaftlich und beruflich ausgegrenzt werden, weiter genötigt sich vorrangig defizitär zu bezeichnen. Anonymität schützt viele von uns vor einer "Sozialleistungskarriere". Meine bisherige beschriebene Auffassung, teilt auch die Prüfkommission der Vereinten Nationen bezüglich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Ein menschenrechtlicher Ansatz fehlt dem Artikel leider. Ich würde mich freuen, wenn sich einem solche Themen etwas etwas differenzierter genährt werden würden. Auch den anfänglichen Vergleich mit dem Holocaust halt ich, insbesondere unter Berücksichtigung der Geschichte der "Euthanasie" und Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, für leicht populistisch. Bisherige Artikel von Frau Seyboldt zu dem Thema "Seele" für sehr erfrischend und differenziert. T.Künneke, Kellerkinder e.V.

    • @Thomas Künneke :

      Danke. So isset.

       

      Anders gewendet.

      "Das Du - ist vor dem Ich!"

      (Martin Buber)

      kurz - Mit dickem ahnungslosem -

      Stift - Wie der Blinde von der Farbe. &

      Sorry. Emphatisch - geht anders.

  • Tja - wenn's so einfach wäre.

     

    "Wer derart verschlüsselt kommuniziert, darf sich nicht wundern,

    wenn in der Folge Gerüchte kursieren und Leute auf Distanz gehen."

    Na. Fein. Schuld sind der Gegenüber - die anderen. & - nochens -

    Ob das hier bejubelte Entschleiern gegen die mit breiter

    Brust beschrie(b)enen sonst zwingenden Folgen hilft.

    Bezweifel ich grad auch noch dazu.

    Vorweg - "Verschleierungsverbot" -

    Richtet sich selbst - wie das schön entlarvende "Siehste" - "Ätschibätschi" - sorry - dämlich ist.

     

    Von vorn - Als mich von 0 auf gleich genannt "Depression" usw usf mit Verfolgungswahn vom Schlitten & zum 58. in Klinik reinraus & 5 Arbeitsversuchen & schließlich in 3 Jahre Analyse & aus dem Job mit 63 & stroke in combi 14 Tage später beförderte - wechselten auch die Diagnosen & die Medikamente!

    So what.

    Vor allem. Was hätt ich sagen sollen?

    & Wem & Wem Was - bitte?!

    Behördenleiterkollege - Nichts!

    Egal. Der - "der ist doch Jurist - oder?" - rief den behandelnden Arzt an.

    Aber ansonsten?

    Was bitte sagt/bringt denn Depression - neuerdings ist bipolare Störung et al. en vogue - außer Scheinklarheit?

    Aus Herdecke brachte ich zudem narzisstische Störung mit (der Typ war danach - ja!) & "Naja - irgendwas muß der ja für die Kasse ja draufschreiben!" usw usf - a never ending story.

     

    Anders gewendet - Faßt frauman z.B. Depression Angststörung etc weniger - weil durchaus hemmend - als Krankheit auf - sondern als derzeit &/oder situativ überbordender Teil der Persönlichkeit -

    Sind Zustandbeschreibungen - wie prosaisch auch immer - gut&angemessen! & Vor allem.

    Frauman hat die Wahl!

     

    In Abwandlung von "Es benennen - heißt - es zerstören" (Max Frisch zur Lieb)e - "Es benennen - schafft distanzierende Scheinklar&sicherheit!"

    Das. Nicht als Dogma - sondern als eine mögliche Handlungsanweisung!

    So wie Benennen eben auch.

    Mehr nicht. &

     

    So denn. Ein zwei sehr enge Begleiter habe ich denn auch später schmerzhaft verloren - die von Anfang an Klarheit hatten&Profis.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    "Holocaust" ist gewiss kein Euphemismus, bezeichnet das Wort doch die totale Verbrennung und verdichtet damit die Verbrechen der Nazis ziemlich treffend.

    • @849 (Profil gelöscht):

      Die Bezeichnung "Holocaust" ist ein religiös konnotiertes Bild mit komplexer Begriffsgeschichte, als solches durchaus ein Euphemismus und deshalb auch nicht unumstritten. Den meisten Menschen, die den Begriff "Holocaust" verwenden, dürfte nicht einmal bekannt sein, was er bedeutet. Es gibt gute Argumente dafür, von der Vernichtung oder Ermordung der europäischen Juden oder aber von "Auschwitz" zu sprechen. Für letzteres spricht, dass damit wenigstens ein konkreter und zugleich symbolischer Ort des systematischen Massenmords benannt und damit die Beispiellosigkeit des Verbechens auf den Punkt gebracht wird.

      • 8G
        849 (Profil gelöscht)
        @Kasch1:

        Dass es religiös konnotiert ist und eine komplexe Begriffsgeschichte hat, macht es zum Euphemismus? Ein Euphemismus ersetzt etwas Schlimmes, das man nicht benennen will, durch eine "weiche" Vokabel. Holocaust geht den anderen Weg: es bezeichnet die Totalität des Grauens in einem griechischen Konstrukt, wäre also das Gegenteil von Euphemismus, wenn man linguistisch argumentieren würde.

         

        Auf Ihren Einwand würde ich mich freuen!

  • Sie haben völlig Recht, Frau Seybolt: Es ist Unsinn bei psychiatrischen Diagnosen gleich Angst vor "Schubladen, Stempeln und Stigmatas" zu haben. Schließlich liegt es an jedem selbst ob überhaupt und wen er ins Vertrauen zieht. Wer rennt denn schon gleich mit nem Schild um den Hals "Vorsicht Depression!" in der Fußgängerzone rum?

    Stattdessen ist der offensive Umgang mit der Erkrankung auch eine Möglichkeit den Stier bei den Hörnern zu packen, aus der Leidensecke heraus zu kommen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und damit wieder zu gesunden. Das war jedenfalls mein erfolgreicher Weg um eine Depression zu besiegen. Kann ich nur weiter empfehlen: Holen Sie sich professionelle Hilfe zur Selbsthilfe!

    Die Angst vor 'Stigmatas' wird besonders gerne in der Ecke der Pädagogen/Innen beschworen. Da sind wir dann ja auch bei jenen die ständig damit beschäftigt sind mittels euphemistischer Sprachklitterung Probleme, die sie nicht lösen können, unter den Tisch zu kehren versuchen. So wurden 'Sonderschulen für geistig Behinderte' einst als 'Hilsschulen' bezeichnet, ab den 90er Jahren dann als 'Sonderschulen' und nun eben als 'Schulen für individuelle Lernförderung'. Die Namensänderungen wurden immer wieder gerade auch mit der Stigmatisierung der Schüler begründet, welche zwar tatsächlich nicht von der Hand zu weisen ist, aber durch Ettikettenschwindel auch nicht zu verhindern. Ein hilfloses Unterfangen hilfloser Helfer und wohlmeinender Dampfplauderer.

  • Die/der Betroffene soll entscheiden! Zunächst in Erfahrung bringen, was der Betroffene möchte. Will er seine Diagnose (mit)teilen und, wenn ja (mit) wem).

    Dann dem Betroffenen Mut machen, dass er seine spezielle Situation benennt und erlaubt, dass sie anderen vermittelt wird. Das gilt, unabhängig davon ob einer Epilepsie hat, arm, Alkoholiker oder Zeuge Jehovas ist oder, oder oder....

    Vielen Dank für den Artikel, Frau Seyboldt. Im Allgemeinen haben Sie recht. Aber es gibt Situationen, die brauchen Zeit....

  • Niemand käme auf die Idee, jemand mit Diabetes sei "stigmatisiert" und man solle die Diagnose doch vermeiden. Die Jule sei "eben eine ganz Süße" wäre irgendwie besser. Es wäre absurd, geradezu kontraproduktiv. Bei psychischen Erkrankungen ist das plötzlich anders: Labelling! Stigmatisierung!

    Herrjeh: Psychische Erkrankungen sind nicht anders als andere. Und von "verrückt", "komisch drauf", "irgendwie seltsam", zu sprechen ist doch weit stigmatisierender. Auch dass Krankheitsbilder im Fluss sind, unter Schizophrenie sich womöglich ganz unterschiedl. Entitäten verbergen, ist doch unerheblich. Es ist doch kein Grund ersatzweise von "alle plemplem" zu reden.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Liebe Frau Seyboldt, sollten Sie Französisch sprechen möchte ich Ihnen und jedem/jeder Interessierten folgenden kleinen Vortrag von Patrick Landman ( psychiatre, psychanalyste, juriste, président de "Stop DSM") ans Herz legen.

    Ein empathisch-besonnener Blick auf die Dinge.

    http://www.dailymotion.com/video/x4gm42e

    Landman spricht ca. von 7:30 min bis 32:30 min.

     

    Schöne Grüße!

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @61321 (Profil gelöscht):

      Französisch verstehen natürlich!

       

      Der Titel sei noch nachgeschoben:

       

      "Un nouveau regard sur les troubles psychiques"

  • Die Autorin hat recht, diese Wortspiele sind meist totaler unsinn. Vor einiger Zeit gab es in der taz ein leuchtendes Beispiel für derartige Auswüchse der Sprachfrickelei. Die beiden Autorinnin wollten für Peronen die vergewaltigt wurden das Wort “Erlebende sexueller Gewalt”, anstelle von Opfer sexueller Gewalt einführen. Optional zwar aber doch ein sehr anschauliches Beispiel wie ich finde.

     

    Tatsächlich würde ich sagen ist die Verwendung einer vorsätzlich unklaren Sprache in sehr vielen Fällen eine Form der Vermeidungsstrategie. Wenn es sich um psychische Krankheiten handelt ist das doppelt schlimm, weil Vermeidung genau das ist was nicht passieren soll.

  • Ich kann mich den Vorrednern nur anschließen und zusammenfassen mit: Diagnosen (In ein bis drei Wörter zusammengefasste multifaktorielle Problemkomplexe nicht nur eines Individuums sondern des ganzen Systems in dem das Individuum agiert) sind in erster Linie eine Hilfe für Ärzte, Therapeuten, Versicherer und vor allen Dingen die Pharmaindustrie.

     

    Was Sie als Vorteil empfinden (Informationen, Austausch, Klarheit) hat den nicht zu verachtenden Nachteil des "sekundären Krankheitsgewinns", nicht nur für Sie, sondern für alle beteiligten Personen, den Erhalt des Normativen von dem der/die Diagnostizierte abweicht und möglicherweise den "krank" machenden Strukturen in denen das Individuum sich bewegt.

     

    "Hans größtes Problem" in dem Fall einer fraglichen "Shizophrenie" (in ihrem Artikel erwähnt), ist eben, dass er in einer anderen Welt lebt und genau da ist der entscheidende Anhaltspunkt in einen konstruktiven Prozess zu gehen und mit dieser Tatsache zu arbeiten.

     

    Was Sie wohl am ehesten zurecht kritisieren, ist die Tatsache, dass sich "niemand dafür interessiert, dass Hans in einer anderen Welt lebt".

    Aber das liegt eher an dem Kern der Problematik in Hans und in seinem Umfeld nicht dem Mangel an Diagnose.

     

    Niemand interessiert sich für Hans, aber man interessiert sich plötzlich für seine Krankheit und eventuell erfährt Hans zum ersten Mal in seinem Leben Beachtung.

    Leider nur durch seine Diagnose, nicht dadurch, dass er Hans ist.

     

    Es ist teilweise erschreckend, wie fern einigen Therapeuten und Ärzten das Konzept von "labeling" und "Stigmatisierung" ist - ist es doch schon alt, belegt und nicht widerlegt. Dennoch bleibt es eins der größten Probleme der Psychotherapie und ist nur schwer in den Griff zu bekommen. Die Chronifizierungszahlen sprechen diese Sprache sehr deutlich.

     

    Halten Sie sich an Ihre Freundin, sie hat Recht.

  • Leider ist die genaue Funktionsweise unseres Gehirns noch immer nicht verstanden und das gesicherte Wissen über psychische Erkrankungen und ihre Ursachen dementsprechend begrenzt. Viele Diagnosen sind in erster Linie Konstrukte aus der klinischen Erfahrung. Erstellt werden sie in der Regel über Symptomchecklisten, die zu einem großen Teil wenig spezifisch sind. Kein Mensch weiß zur Zeit, ob alle die Personen, die unter Diagnosen wie ADHS, Depression oder Persönlichkeitsstörung subsumiert werden, nicht in Wirklichkeit an ganz unterschiedlichen Krankheiten mit jeweils eigenen Ursachen leiden. Einige heute "populäre" Krankheitsbilder werden sich auch als kulturell induzierte Projektionen, als Mode erweisen und verschwinden.

    Wer in der Benennung seiner eigenen psychischen Probleme zurückhaltend ist, verschleiert also nicht unbedingt, er differenziert in vielen Fällen völlig zu Recht.

    By the way: Auch "Holocaust" ist ein Euphemismus. Wer Klartext reden will, spricht von der systematischen Ermordung der europäischen Juden.

    • 8G
      849 (Profil gelöscht)
      @Kasch1:

      Die "systematische Ermordung der europäischen Juden" klingt für mich wie der Beipackzettel eines ungeliebten Medikaments. Man kann auch euphemisieren, indem man sich einer technizistischen Sprache bedient. Das Geschehene hat m.E. keine Vokabel oder Wendung, die es hinreichend bezeichnete. Insofern sind Euphemismen dann wohl zwangsläufig.

    • @Kasch1:

      Es ist richtig das Diagnosen immer eine gewisse Unschäfe haben. Man ist da als Patient auch zum Großteil von der Kompetenz seines Arztes abhängig. Grade bei Depressionen stimme ich Ihnen zu, da wird viel in einen Topf geworfen. Viele Menschen die Antidepressiva bekommen haben keine Depressionen, sondern leben schlicht unter fürchterlichen Umständen und leiden deshalb unter den gleichen Symptomen. Aus gutem Grund deprimiert sein ist aber natürlich keine Krankheit.

       

      Trotz allem sind Krankheitsbilder absolut legitim, auch wenn man damit nur bei 80% der Patienten eine Punktlandung hinlegt. Das ist immer noch um Welten besser als völlig unsystematisch vorzugehen. Wenn ein Laie seine Diagnose ablehnt dann halte ich das dennoch für nicht legitim. Der Arzt ist nicht allwissend aber er sollte auf jeden Fall mehr wissen als ein medizinisch völlig ungeschulter Patient. Die Ablehnung der Diagnose erfolgt in solchen Fällen einfach aus gefühlsduselei. Mit Kritik an der Genauigkeit von Diagnoseverfahren hat das nichts zu tun.

  • Auch ich nenne Dinge gern beim Namen – in Grenzen. Ich bin schließlich nicht mehr grün hinter den Ohren, halbwegs wach und in der DDR sozialisiert. Ich weiß, dass „der Mensch“ fehlbar ist – und Sprache immer noch ein Machtmittel.

     

    Es ist wie mit dem Internet: Oft ist es gut, die Namen derer zu kennen, die daran mithäkeln. Manchmal kann es aber auch gefährlich sein. Nicht jeder Mensch ist jederzeit ein Freund der Wahrheit. Jene Mitarbeiter des US-Agrar-Ministeriums, die den Klimawandel beim Namen nenne wollen, sollten das also derzeit nicht unter ihrem Klarnamen tun. Sie riskieren sonst ihren Job – und alle damit verbundenen Enflussnahme-Möglichkeiten.

     

    Und Diagnosen? Nun: Wir haben da so ein System. Das nimmt studierte Ärzte an die Vorschriften-Leine und hält ihnen zugleich die Geld-Karotte vor die Nase. Außerdem ist medizinisches Wissen nichts statisches, nichts, was man ein für allemal besitzen kann. Wo ganz genau die Grenzen liegen zwischen Gesundheit und Krankheit bzw. zwischen den einzelnen Krankheiten, ist weitestgehend Ansichtssache.

     

    Ist eine Depression nun eine – quasi nackte – Depression, oder ist sie die Nebenwirkung einer Virus- oder Krebserkrankung? Gelehrte diskutieren noch – und Praktiker schauen schlich nicht genau hin. Weil ihnen die Zeit fehlt, der Nerv oder das Budget. Dann gibt es sie, die Fehldiagnosen. Und die nennen Dinge nicht beim Namen, sondern verschleiern sie. Im schlimmsten Fall sind „alternative Wahrheiten“ sogar tödlich. Nicht nur sozial, sondern auch körperlich.

     

    Mündige Patienten sollten sich also nicht mit der ersten besten Diagnose abspeisen lassen, nur weil sie Dinge grade leichter macht. Es gibt so viel, was wir jetzt noch nicht wissen. Nur eins steht fest: Der Patient merkt, was ihm bekommt. Gibt er diese Selbst-Kompetenz unkritisch an Leute ab, die sich nicht kritisieren lassen und auch nicht korrigieren wollen, ist er für mich total verrückt, irre, übergeschnappt – allerdings zugleich auch vollkommen normal. Leider.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Es gibt keine "normalen" Menschen. Ein jeder hat seine Störung. Die "Normalität" definiert sich dadurch, dass angeblich normale Menschen sich zusammenfinden, ihre indviduellen Störungen zusammenfassen und zur Norm stilisieren.

    • @849 (Profil gelöscht):

      Mein lieber Schieber, Atalaya!

      Sie haben ja eine ziemlich großzüge Definition des Begriffs "psych. Störung". Und echt demokratisch und gerecht verteilt. Da kriegt jeder was ab davon, da hat dann auch jeder was davon - von dem fachlich unhaltbaren Schmarren. Kann er/sie sich eintüten und mit nach Hause nehmen, damit spielen und sich freuen dass Frau Nachbarin auch nen 'Vogel' hat. Hat er/sie immer schon geahnt. Dann is' ja alles wieder gut! Lieschen Müllers Küchenpsychologie eben.

      • 8G
        849 (Profil gelöscht)
        @LittleRedRooster:

        Psychische Schäden sind Abwehrmechanismen gegenüber der Realität, oder? Leute, die diese "Schäden" haben, machen damit deutlich, dass sie leiden, während jene, die sie nicht haben, damit nicht deutlich machen, dass sie nicht leiden, sondern, dass sie sich im Mainstream befinden, der ihr Leiden übertüncht.

         

        Es geht nicht um Lieschen Müllers Küchenpsychologie, sondern um die Einordnung von Krankheiten als gesellschaftliches Phänomen. Die Gesellschaft gehört ebenso auf die Couch wie jene, die aus der Rolle fallen und auffällig werden.

        • @849 (Profil gelöscht):

          "Psychische Schäden sind Abwehrmechanismen gegenüber der Realität, oder? (...)" (Zitat).

          Ohmeiohmei! Wenn Sie glauben, dass Sie psych. Erkrankungen mit derartig oberflächlichen Allgemeinplätzen gerecht werden, dann befinden Sie sich auf einem sehr hölzernem Wege. Das ist Freud für Hobbyisten, Küchenpsychologie halt.

          Psychische Erkrankungen entstehen stattdessen oft genug weil die Abwehrmechanismen versagen.

          Aber zurück zum Ursprung - Ihrer Definition von "Normalität":

          Dieser Begriff spielt in der Psychiatrie eigentlich keine Rolle und damit auch nicht dessen Definition. Ihre eigene Definition ist IHR ureigenstes Produkt und in der Praxis belanglos.

          Eine Norm von Gesundheit ist via WHO ohnehin nur sehr vage 'definiert' und lautet sinngemäß: Gesundheit ist ein Zustand von körperlichen, geistigen und psychischen Wohlbefinden.

          Diese Formulierung ist sehr allgemein gehalten und deshalb manchmal auch relativ unbefriedigend. Ich kenne aber keine bessere - und brauche sie auch nicht.

          • 8G
            849 (Profil gelöscht)
            @LittleRedRooster:

            Habe ich irgendwo geschrieben, dass ich glaube, irgendwas gerecht werden zu müssen. Anstatt hier ad hominem rumzudozieren, könnten sie vielleicht Butter bei dir Fische tun,

             

            Was die WHO dazu sagt bzw, "vage definiert" (ein Widerspruch im Beiwort), interessiert mich nicht die Bohne. Es interessiert mich auch nicht, ob Normalität in der Psychatrie eine Rolle spielt, sondern inwiefern diese Gesellschaft krank ist, auch da, wo sie sich für gesund hält.

             

            Nach Ihren bisherigen Einlassungen muss ich darauf schließen, dass es gar keine wirkliche Krankheit gibt bzw, dass der Zustand körperlichen, geistigen und psychischen Wohlbefindens vor allem eines tut: die Antwort verweigern.

             

            Soviel zur Küchenpsychologie. Feiger Revanchismus ist das in meinen Augen und oberflächlich bis zum Erblinden-

            • @849 (Profil gelöscht):

              Sorry, habe Ihren Wutanfall mit Verspätung wahrgenommen - und hoffe der Blutdruck bewegt sich nun wieder im normalen Bereich.

              Nun, Ihr Aggressionsschub Angesichts der WHO-Gesundheitsdefinition ist mir Wurst und ich gehe davon aus, dass er bei der WHO ein ähnliches Echo findet.

              Wenn Sie aus meinen Anmerkungen schließen, ich wäre der Meinung es gäbe keine wirkliche Krankheit, dann weiß ich jetzt nicht so recht ob ich diesen Schmarren nun mangelnden deutschen Sprachkenntnissen, purer Böswilligkeit oder überbordend blühender Phantasie zuordnen soll...

              Allein schon Ihr Begehren nach einer gesamtgesellschaftlichen psychiatrischen Diagnose ist (zurückhaltend formuliert) ziemlich 'originell'.

              Sie werden sich wohl damit abfinden müssen, dass Gesundheit und Krankheiten jeweils individuelle Befindlichkeitszustände von lebenden Wesen sind - und nicht von abstrakten Konstrukten wie Staaten oder Gesellschaftsordnungen. Die Zeiten einer ideologisch konstruierten "Volksgesundheit" sind Gottseidank vorbei.