Kolumne Psycho: Schlimmer als Weltschmerz
Let’s talk about Depression. Denn wer nicht selbst unter der Krankheit leidet, kann nicht verstehen, worum es dabei eigentlich geht.
Beim Duschen kurz erschrocken, weil mir jemand ans Knie gefasst hat. War dann aber doch nur ich selber.“ Vielleicht beschreiben diese Zeilen aus meinem Tagebuch am besten, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich nichts mehr fühlt. Wenn man fremd ist im eigenen Körper und fremd im eigenen Kopf. Wenn man in den Spiegel schaut und sich selbst nicht mehr erkennt.
Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden rund 322 Millionen Menschen weltweit an Depressionen. Die Krankheit ist eine der häufigsten psychischen Störungen überhaupt, das Thema des heutigen Weltgesundheitstages heißt deshalb auch „Depression – Let’s talk“. Nur: Wie erklärt man jemandem das Meer, der nicht weiß, was Wasser ist?
Vor ein paar Jahren wohnte ich mit einer Freundin zusammen, die eine bipolare Störung hat. In ihren manischen Phasen versprühte sie Elan wie Monsanto Glyphosat, an ihren depressiven Tagen kam sie nicht mal aus dem Bett. Ich versuchte damals, sie zu verstehen – und scheiterte.
Schlechte Tage
Heute weiß ich, warum. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass eine Depression aus einem Knäuel negativer Gefühle besteht, ungefähr so wie die Haarballen, die Katzen ab und an auskotzen. Melancholie, Traurigkeit, Weltschmerz – kennt jeder, ist scheiße, geht aber auch wieder weg. Nur so lassen sich schlechte Tage ja überhaupt erst ertragen: durch die Gewissheit, dass auch wieder gute kommen.
Diese Gewissheit, das kann ich mittlerweile mit Gewissheit sagen, gibt es in depressiven Phasen nicht. Zumindest bei mir. Denn um zuversichtlich in die Zukunft zu schauen, auch wenn die Gegenwart gerade unerträglich ist, braucht es Hoffnung. Hoffnung ist ein positives Gefühl. Ich hatte nicht mal negative Gefühle. Ich spürte gar nichts mehr. Was es schwierig machte, meine erste depressive Episode überhaupt als solche zu erkennen.
Emotionen waren bis zu diesem Zeitpunkt keine Option gewesen, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und jetzt waren sie komplett verschwunden. Was war hier los? Ich grub ein bisschen tiefer, um wenigstens auf ein Minigefühl zu stoßen, nur um zu merken, dass ich nicht mal mehr wusste, was das überhaupt sein könnte.
Zack, dunkel
Mein Therapeut erklärte mir später, dass mein Körper mich auf diese Weise schützt, wenn alles zu viel wird. Ängste, Perfektionismus, Stress. Bevor man komplett durchdreht und explodiert, gibt es einen Stromausfall: Überhitzung, zack, dunkel.
Seither frage ich mich manchmal, ob der Begriff „Depression“ – lateinisch für „niederdrücken“ – wirklich nur die Stimmung während der Krankheit beschreibt und nicht vielleicht auch ihren Mechanismus. De-Pression. Druck rausnehmen. In diesem Fall könnte man beinahe froh sein, dass es die Depression gibt und sie Schlimmeres verhindert.
Eins steht jedenfalls fest: Wer jemals gezwungenermaßen auf seine Gefühle verzichten musste, kann selbst Liebeskummer etwas Positives abgewinnen. Kleiner Tipp zum Schluss: Wenn man zu schwach ist, um sich die Tränen abzuwischen, heult man am besten unter der Dusche. Gern geschehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin