Kolumne Nullen und Einsen: Der Friedhof der digitalen Kuscheltiere
Wir stecken Zigtausende Stunden in Aufbau und Pflege von virtuellen Städten und Tieren. Doch irgendwann verlieren wir das Interesse an ihnen.
E ine traurige Nachricht erreicht uns aus dem Internet: Am vergangenen Samstag sind jede Menge virtuelle Kaninchen gestorben, und zwar in „Second Life“.* Okay, streng genommen schlafen sie bloß. Der Schöpfer der Tiere musste die Server abschalten, um einem Rechtsstreit aus dem Weg zu gehen. Damit gibt es kein Kaninchenfutter mehr, ohne Futter schlafen die Tiere nach 72 Stunden ein und wachen erst auf, wenn es neues gibt – also niemals.
Für die Kaninchenbesitzer bedeutet das wiederum, dass viele Stunden ihrer Lebenszeit für Pflege und Aufzucht letztlich vergebens waren. Das ist tragisch. Aber auch ganz normal.
Jeden Tag werden zigtausende Stunden in die Bewirtschaftung von virtuellen Wesen und Gütern gesteckt. Pokémon werden trainiert und mit Sternenstaub gefüttert, Sims machen Karrieren und führen Beziehungen. Magier lernen Zaubersprüche und Orks komplettieren ihre Waffenkammer. Bauernhöfe und Weltreiche werden aufgebaut und mit viel Akribie ausstaffiert. Und das alles von Menschen, die meist auch im echten Leben Partnerschaften pflegen, Kinder und Haustiere betüddeln, ihre Wohnung verschönern – oder nicht, denn man hat eben nur Zeit für ein Leben und nicht noch für ein zweites. Da muss man Prioritäten setzen!
Welchen persönlichen Wert solche virtuellen Karrieren besitzen, zeigt etwa eine Reportage über eine Gruppe Syrer, die Ende November in Zeit Campus stand. Die Jugendfreunde haben sich in den Kriegswirren aus den Augen verloren, ihr letzter gemeinsamer Treffpunkt ist das Multiplayer-Online-Battle-Arena-Spiel „Defense of the Ancients“. Selbstverständlich nahm einer der Männer seinen Spielstand mit auf seine Flucht über das Mittelmeer, gespeichert auf einem USB-Stick.
Doch nichts ist von Dauer. Irgendwann verliert man an jedem Spiel das Interesse. Aus lustvollem Gefrickel wird erst ein To-do-Listen-artiges „Ich sollte mal wieder …“ und wenn beim Kauf eines neuen Rechners/Smartphones die alten Spiele nicht mehr installiert werden, ist es endgültig vorbei.
Eine Freundin, nennen wir sie A., zählt all die vergessenen Schätze ihrer Gamerinnen-Laufbahn auf: „Zwei Tamagotchis aus den 90ern. Sims, über mehrere Generationen aufgezogen, eingemottet etwa 2009. Mein Nintendog von 2006, er ist höchstwahrscheinlich längst weggelaufen. In ‚Animal Crossing‘ eine Stadt voller virtueller Tiere – die seltenen gezüchteten Blumen, alle verdorrt! Und irgendwo in einem Karton verstaubt auf einem Nintendo-Spiel eine Sim-City-Stadt, in die ich Stunden meiner Kindheit gesteckt habe.“
Das Problem ist: Selbst wenn man die Daten als Back-up ewig aufbewahrt, fehlt irgendwann das Spiel drumherum. Oder die Konsole zum Abspielen. Oder das Kabel, um die alte Konsole mit einem aktuellen Fernseher zu verbinden. Oder im Spiel die Mitspieler. Wie in so einem Film, in dem sich ein Mensch einfrieren lässt, und als er im Jahr 3000 wieder auftaut, ist er der Einzige, der noch übrig ist.
Wir haben gigantische digitale Brachflächen geschaffen, bevölkert von Zillionen von virtuellen Wesen. Medienarchäologen der kommenden Generationen werden viel Freude damit haben.
„Ich frage mich, wie meine Haustiere und mein Kind noch leben“, sagt A. „Würden sie von meiner Videospielgeschichte wissen, könnten sie sich zu Recht Sorgen machen.“
* Die Älteren werden sich erinnern: die Online-3D-Welt, die vor ziemlich genau zehn Jahren mal so aufregend war, dass sie es sogar auf den „Spiegel“-Titel schaffte.
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