Kolumne Minority Report: Jede Ehe ist eine Scheinehe
Einer NGO wird der Aufruf zu Scheinehen vorgeworfen. Vielleicht ist Liebe nichts anderes als die strategische Aufteilung der eigenen Privilegien.

S eit Kurzem trage ich Schmuck an meinem rechten Ringfinger und der Satz, den ich seitdem ziemlich häufig höre, lautet: „Also von dir hätte ich das ja nicht gedacht!“ Das soll wohl Enttäuschung ausdrücken. Nicht etwa weil die jeweilige Person mir einen Antrag machen wollte, sondern weil sie mich als Verbündete sah – und sich durch den Ring plötzlich verraten fühlt.
Heiraten ist uncool, unzeitgemäß, antifeministisch, falsch… Die Liste lässt sich noch endlos weiterführen, schließlich leben wir in einer modernen westlichen Demokratie, wo progressive, selbstbestimmte, linke Menschen die Ehe grundsätzlich ablehnen sollten. Wer heiratet, fördert Unterdrückung, den Erhalt des Patriarchats. So einfach ist das. Oder etwa nicht?
So las sich auch einer der seriöseren Kritikpunkte an einem Tweet, den Mission Lifeline vergangene Woche absetzte: „Ihr seid noch nicht verheiratet? Vielleicht verliebt ihr euch zufällig in einen Menschen, der*die hier noch kein Bleiberecht hat. Könnte passieren, oder? Bleibt offen!“ Die Reaktionen auf die ohnehin umstrittene private Seenothilfe waren heftig und gingen in alle Richtungen. Vor allem hieß es, die NGO verkupple „kriminelle Flüchtlinge“ und rufe zu einer Scheinehe auf – einer in Deutschland massiv verfolgten Straftat.
Nun ist es mit dem Konzept Scheinehe aber so eine Sache. Juristisch bedeutet es, dass eine Ehe nur formal geschlossen wird, damit eine oder beide Seiten einen rechtlichen Vorteil aus der Eheschließung ziehen. Das ist interessant, denn das trifft auf so ziemlich jede Ehe zu, die mir bekannt ist. Die einen heiraten, um Steuern zu sparen, die anderen, um finanziell abgesichert zu sein durch die Unterhaltspflicht. Viele heiraten, weil sie jemanden brauchen, der sie pflegt und vögelt und in den Arm nimmt, ohne jedes Mal extra dafür bezahlen zu wollen – sondern als Flatrate quasi.
Ungleiche Machtverteilung
Okay, manche heiraten auch aus religiösen Überzeugungen oder weil sie zu viele Hollywoodfilme gesehen haben, aber selbst das halte ich für Schein – denn wo andere eine Beziehungspause einlegen oder sich trennen, reichen Eheleute eben nicht sofort die Scheidung ein, sondern überlegen erst mal, ob sich das überhaupt rechnet. Man kann also durchaus sagen: Jede Ehe ist eine Scheinehe.
Solange es in diesem Land Rechte gibt, die nur mit der Eheschließung einhergehen, ist die Aversion gegen Heirat häufig nur ein Zeichen von Privilegiertheit. Man selbst hat es nicht nötig und verachtet jene, die es tun – ob aus finanziellen Gründen oder wegen des Aufenthaltstitels, der tatsächlich am einfachsten über die Eheschließung abzusichern ist. Ob Heiraten die klügste Form des Aktivismus ist, sei dahingestellt – die ungleiche Machtverteilung in so einer Beziehung endet ja wirklich nicht selten in Erpressung.
Aber solange die Institution Ehe nicht komplett abgeschafft wird – das wäre immerhin konsequent –, ist der Rat von Mission Lifeline gar nicht so verkehrt: Vielleicht ist wahre Liebe ja nichts anderes als die strategische Aufteilung der eigenen Privilegien.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Grünen nach der Bundestagswahl
„Ja, pff!“
Habecks Rückzug
Quittung für den angepassten Wahlkampf
Der Jahrestag der Ukraine-Invasion
Warum Russland verlieren wird
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
SPD in der Krise
Der schwere Weg zur Groko
Nach der Bundestagswahl
Jetzt kommt es auf den Kanzler an