Kolumne Melodien aus Malmö #6: Das Böse unter der ESC-Sonne
Soll man Weißrussen beim ESC trotz der Menschenrechtslage grüßen? Der Kontakt lässt sich kaum vermeiden. Das ist gar nicht so schlecht.
E igentlich muss man sie wie Aussätzige behandeln. Voriges Jahr Aserbaidschaner, die nicht irgendwie pure Fans des ESC sind oder politische Aktivisten im Sinne der „Human Rights Watch“ Agenda. Dieses Jahr böte sich an, besonders ein böses Auge auf Weißrussland zu werfen, denn dieses Land ist Mitglied der European Broadcasting Union (EBU) und bleibt es auch, weil die EBU nun einmal keine politische Organisation ist, sondern ein TV-Netzwerk öffentlich-rechtlicher Sender.
Es ist beim ESC einfach sehr kompliziert, denn was beim Fußball oder beim Sport überhaupt gestattet ist, kann es bei einem Pop-Festival noch lange nicht sein: Da ist jede Note immer auch eine schiefe, wenn sie in einem Lied eines undemokratischen, ja, totalitären Landes steckt.
Nur: Soll man Weißrussen hier beim ESC in Malmö grüßen? Kann man sie meiden – aber wie soll das in einem Fahrstuhl gehen? Zumal wenn man so grundfreundlich ist wie Viktar Jushkevich, ein Sprachentalent aus Minsk, der seiner Ausbildung wegen in vielen Städten Schwedens lebte, jeweils nur kurz, auch in Großbritannien war, der Sprache wegen. Er kann Englisch, und das ist in diesem eurovisionären Kontext nützlich, denn das Englische ist die „lingua franca“ des Pops und die Umgangssprache beim ESC in Malmö. Doch, wir wünschen uns einen „Guten Morgen“, sonst den Tag über auch, wenn man sich begegnet. Und das ist ganz unvermeidlich, weil die weißrussische Delegation mit Sängerin Alyona Lanskaya auch in meinem Hotel Herberge genommen hat.
Jahrgang 1957, Autor und Redakteur der taz, schreibt über den Eurovision Song Contest seit vielen Jahren. Er hat Bücher zum Thema geschrieben, seit 2005 und auch momentan bloggt er auch unter eurovision.de, der ESC-Plattform des in der Bundesrepublik federführenden Senders NDR/ARD, zum Event. Die politischen Begleit- wie Kehrseiten des ESC sind Thema dieser taz-Kolumne.
Weißrusslands Macher sind leicht zu identifizieren. Nicht nur, weil die erfahrungsgesättigten Blicke stimmen: Männer aus dem exsowjetischen Raum tragen spitze Schuhe, fallen durch ein Handtäschchen am Armgelenk auf, die Handys am Hosengürtel, sichtbar wie bei dauergefragten Ingenieuren. Und die Frauen sehr schlank – und Alyona Lanskaya ganz besonders.
Die EBU jedenfalls hat erklärt, trotz der aserbaidschanischen Erfahrungen, dass auch in Minsk ein ESC stattfinden könnte, aller Menschenrechtslage – eine Diktatur, was sonst, mit Todesstrafe, Polizeiwillkür und Einschüchterung aller Opposition und so weiter – zum Trotz.
Das Ding generell
Viktar Jushkevich' ist ein überaus freundlicher junger Mann; für sein Team aus Weißrussland hat er Übersetzungsaufgaben zu erfüllen – und ein Junge für alles zu sein. Journalisten mit Promomaterial zu versorgen, Kisten und Tüten schleppen und sowas. Er wirkt wie ein glücklicher Mann, der sich für den ESC allerdings auch dann interessieren würde, wenn er mit diesem beruflich nichts zu tun hätte.
„Wissen Sie, der ESC ist in Weißrussland das Ding generell. Alle gucken das. Sind gespannt, wie es in anderen Ländern aussieht, wie die singen. Es ist ja ein bisschen wie Sport, da fiebert man auch nicht.“ Jushkevich, der dennoch kein Foto von sich machen lassen möchte – „Entscheidet der Delegationsleiter!“ – Vielen Dank!, der lehnt ja alles ab, was nicht Alyona Lanskaya ist –, sagt, dass Weißrussland ein schönes, friedliches Land sein ... Und an dieser Stelle fragt man sich, ob dieser Endzwanziger wirklich nur ein Teil der Minsker Delegation im Gesindetrakt ist oder ein politischer Einflussagent ...
Wie dem auch sei: All die Personen, die sich bis gestern abend sorgten, ob „Solayoh“, so der Titel Weißrusslands, es ins Finale schafft oder nicht, sind an diesem Tag nach dem ersten Semifinale vielleicht beim Ausnüchtern auf den Zimmern. Es hat sich gelohnt, diese Arbeit am Europäischen: die gigantisch teure Party im „Slagthus“ für alle ESC-Akkreditierten, die T-Shirts, die man an Fans verschenkte, all die Interviews, die Alyona Lanskaya geben durfte, der Stress, die Nervotität, das hektische Telefonieren mit den Handys.
Denn sie ist tatsächlich ins Finale gekommen – auch wenn die Bühnenshow bei mitteleuropäischen Zuschauern eventuell als überladen empfunden wurde. Samstag beim Finale ist man dabei. Viktar Jushkevich wird jetzt drei Tage ruhig sein können, denn das Ziel ist erreicht: Finale! Der Rest ist Zugabe, nicht nur für ihn, vor allem für die weißrussischen TV-Leute. Gewinnchancen gibt es nach allem, was man wissen kann, keine. Das ist beruhigend, vor allem für die EBU: Die muss sich dann mit der Frage, ob man in einer Diktatur einen ESC ausrichten kann, nicht herumschlagen.
Wie es sonst im ersten Halbfinale aussah. Cascada wird heute in Malmö auf der Freiluftbühne in der Innenstadt auftreten. Es soll frühsommerlich werden.
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