piwik no script img

Kolumne LügenleserMehr Antisemiten als Katholiken

Schon wieder dieses „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Zeit für eine neue Debatte: Wie steht es eigentlich um das Christentum?

Weniger als drei Millionen Katholiken gehen regelmäßig zum Gottesdienst Foto: dpa

D ie Debatte ist alt. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ poltert der Heimatminister und schon geht’s los. Dabei ist die Diskussion vollkommen obsolet. Nicht nur, dass ein Großteil der hier lebenden Muslime faktisch Deutsche sind. Auch die Deutschen können längst nicht mehr ohne ihren Lieblingsgegner. „Der Islam beschäftigt die Deutschen. Fast schon zwanghaft. Er ist Teil ihrer Identität geworden“, stellte Ferda Ataman vollkommen richtig im Spiegel fest. Zeit also, eine neue Debatte anzustoßen: Gehört das Christentum überhaupt noch zu Deutschland?

Gerne beruft man sich hierzulande auf das christlich-jüdische Abendland. Es ist schon einige Jahre her, als dem HB-Männchen Michel Friedman in einer Talkshow der Kragen platzte. Links neben ihm stänkerte nun schon die halbe Sendung über eines dieser austauschbaren CDU-Gesichter gegen den Islam und faselte von der „jüdisch-christlichen Tradition unseres Landes“. Irgendwann bat Friedman den Mann lautstark, sich doch bitte nicht dauernd auf eine „jüdische Tradition“ zu berufen.

Es sind nicht nur die historischen Verbrechen an den Juden (auch lange vor 1933), deretwegen deutsche Politiker vielleicht nicht ganz so laut die jüdische Traditions-Pauke schlagen sollten. Auch aktuell sieht’s nicht prickelnd aus. So fanden etwa 2016 noch zehn Prozent der Deutschen, dass der Einfluss der Juden auf die Welt zu groß sei. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Seit ein paar Jahren wird beim Thema Antisemitismus aber gern auf Migranten (oftmals gleichbedeutend mit Muslimen) verwiesen. Diese seien verantwortlich für den Judenhass. Ein kurzer Blick in die Kriminalstatistik straft solche Behauptungen Lügen. Im ersten Halbjahr 2017 etwa wurden 681 antisemitische Straftaten erfasst. Ganze 93 Prozent davon (632 von 681 Delikten) wurden von Rechtsextremen begangen. Die angebliche „jüdische Tradition“, die man als Bollwerk gegen den Islam in Stellung bringt, ist heuchlerischer Unsinn.

Bleibt das Christentum. Dass dort, wo am lautesten gegen den Islam gepöbelt wird, die wenigsten Christen wohnen – geschenkt. Dass der Papst nach Lampedusa fährt und Flüchtlinge um Verzeihung für die allgemeine Ignoranz bittet – ignoriert. Dass wir an Weihnachten einen roten Clown und zu Ostern einen Hasen feiern – who cares?

Weniger als drei Millionen Katholiken gehen regelmäßig zum Gottesdienst. Das sind ungefähr vier Prozent der Bevölkerung. Bedeutet: In Deutschland gibt es mehr offene Antisemiten als praktizierende Katholiken. Surprise! Schätzungen zufolge sind außerdem nur etwa 15 Prozent der Deutschen bewusst mit der Kirche verbunden. Bedeutet wiederum: In diesem Land glauben mehr Menschen, dass die USA hinter 9/11 stecken (23 Prozent nämlich), als an die Institutionen der Christenheit.

Wollen wir dieser Minderheit etwa erlauben unser Land zu verändern? Horst, übernehmen Sie!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Juri Sternburg
Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Die Frage müsste lauten warum Lügen - Spender in Form von Heiligen, Propheten und Gurus überhaupt Glauben geschenkt wird.

  • Zitat: "Wollen wir dieser Minderheit etwa erlauben unser Land zu verändern? Horst, übernehmen Sie!"

     

    Gott bewahre! Dass Heimat-Hotte übernimmt, meine ich. Weil: Wenn es nach dem geht, wird "dieser Minderheit" großzügig erlaubt, als Ausrede dafür herzuhalten, dass sich nie wieder etwas ändert in diesem unserem schönen Land. Auch und gerade nicht zum Besseren.

  • Aber die meisten Deutschen feiern doch den Geburtstag des bekanntesten Juden jedes Jahr, zwei Tage lang.

  • "Ein kurzer Blick in die Kriminalstatistik straft solche Behauptungen Lügen. Im ersten Halbjahr 2017 etwa wurden 681 antisemitische Straftaten erfasst. Ganze 93 Prozent davon (632 von 681 Delikten) wurden von Rechtsextremen begangen."

     

    Wie jetzt? Die TAZ zitiert die PKS?

     

    Diese PKS, die in anderen Artikeln als unseriös gebrandmarkt wird?

     

    Nun denn: Die 93 % lassen sich sicherlich dadurch erklären, das Rechtsextreme einfach häufiger angezeigt werden wenn sie antisemitische Straftaten begehen...

  • Wenn jemand meint, der Einfluß von X in der Welt sei zu groß, so ist das sicher keine Anti-X-mus. Das ist einfach dumm. Wenn ich meine, dass der Einfluss von weißen alten Männern zu groß sei, dann ist das kein Sexismus, kein Rassismus und keine Altersdiskriminierung, wenn sich das durch den übermäßigen Einfluss und nicht durch die persönliche Abneigung begründet. Es kann sich also hier durchaus um eine sexistische und rassistische Aussage von einer schwarzen Feministin handeln - aber auch um eine gut begründete Beobachtung. Das gilt aber für andere Gruppen genauso. So ist z.B. der Einfluß der Frauen auf das deutsche Familienrecht deutlich zu hoch. Der Einfluß auf das Wirtschaftsrecht aber deutlich zu niedrig. Wie hier die taz Antisemitismus verortet ist abendteuerlich. Wenn ich sage, dass bei uns der Einfluss des Christentums auf die Politik zu groß ist, so ist das eine Beschreibung der Situation, die gerade durch die christliche Tradition bedingt ist.

    Die jüdisch-christliche Tradition wird gerne aufgeführt, da ein alleiniges Berufen auf die christliche Tradition das Judentum ausgrenzen würde. Dabei wird natürlich ausgeblendet, dass die jüdische Tradition durch die Nazis bei uns brutal abgebrochen wurde und dass die jüdisch-christliche Tradition auch schon vor den Nazis eher von einem Gegen- als einem Miteinander geprägt war. Aber ein Wir-Gefühl stellt sich ja auch immer erst in der Abgrenzung zu Außenstehenden ein.

    So ist die Einbeziehung der jüdischen Tradition eher ein Zeichen davon, dass man sich als offen und tolerant darstellen will, obwohl man gerade eine Gruppe ausgrenzt. Das ist kein Antisemitismus - auch wenn die jüdische Tradition dabei eher instrumentalisiert als ernst genommen wird.

    • 8G
      88181 (Profil gelöscht)
      @Velofisch:

      Bei diesem antisemitischen Bild geht es doch darum, dass eine vergleichsweise kleine Gruppen von Menschen einen ungeheuren Einfluss hat.

       

      Und zwar in allen Sphären auf der ganzen Welt. Und weil dies so schrill wie falsch ist, entspringt es eben einer wahnhaften Vorstellung.

       

      Ist Teil einer welterklärenden Ideologie, die in komplizierter werdenen Zeiten für Klarheit und Halt sorgt.

       

      Deswegen sind Linke, Rechte und Islamisten jeder Couleur auch darin einig, dass Israel als Staat an sich, keine Fehler macht, sondern einer ist.

    • @Velofisch:

      Viel abenteuerlicher und von Unwissenheit geprägt ist dieser Kommentar von Velofisch. Die Mär des übermächtigen Einflusses von Juden gehört zum Standardrepertoire des rassistischen Antisemitismus. Diese Mär wurde in den sogenannten "Protokollen der Weisen von Zion" (eine anfangs des 20. Jahrhunderts in Russland entstandene Fälschung), in der gesamten NS-Propaganda "wenn das Weltjudentum..." und wird bis zum heutigen Tage fleißig weiter gepflegt. Dies alles wird von Velofisch einfach ignoriert. Dieser Kommentar hat die Welt so gebraucht wie ein Fisch ein Fahrrad.