Kolumne Lügenleser: Was nicht aufregt, ist keine Meldung
Lauscht man den Diskussionen, glaubt man schnell, Deutschland stehe am Rande einer Apokalypse. Was ist mit den eigentlich wichtigen Debatten?

Wäre doch wunderbar, wenn die fahnenschwingenden Alltagsrassisten die WM aus Protest gegen Mesut Özil (l.) und İlkay Gündoğan (m.) boykottieren Foto: dpa
Alle jetzt mal die Schnauze halten. Das wär’s. Einfach mal leben oder nachdenken oder so. Geht aber nicht. Denn irgendwie müssen alle ständig diskutieren oder ihre weltbewegende Meinung kundtun. Ich natürlich auch, aber ich werd’wenigstens dafür bezahlt. Wenn auch miserabel.
Lauscht man den täglichen Diskussionen, glaubt man schnell, Deutschland stehe am Rande einer Apokalypse. In Kartoffelhausen ist mal wieder Land unter. Was stört den Deutschen denn aktuell? Oder besser: Welche Themen greift ein Großteil der Medien tagtäglich auf? Kurz mal durch die Facebook-Timeline gescrollt, was man halt so macht. Ich sitze glücklicherweise gerade unter der Sonne Thessalonikis, da fällt es leichter, in das Mordor des Internets abzutauchen.
Viele Deutsche regen sich weiter über die Causa Özil/Gündoğan auf. Es wird gedroht, der Mannschaft die Unterstützung zu verweigern. Eigentlich eine wunderbare Nachricht, niemand wird die fahnenschwingenden Alltagsrassisten bei den Public Viewings vermissen. In Deutschland gibt es aber keine guten Nachrichten. Was uns nicht aufregt, ist keine Meldung.
Ebenfalls ein großes Thema: Der Bamf-Skandal. Diskussionen, so weit das Auge reicht. Wir reden von 0,064 Prozent fehlerhaft ausgestellten positiven Asylbescheiden in Bremen. Warum reden wir nicht über die 44 Prozent der negativ ausgestellten Bescheide, die nach einer Prüfung von Gerichten korrigiert wurden? Weil wir uns unsere Themen längst von Rechtsaußen diktieren lassen. Die Debatte um die Themenauswahl der öffentlich-rechtlichen Talksendungen ist da nur ein Puzzleteil unter vielen.
Nicht nur ARD und ZDF sind dazu übergegangen, ununterbrochen zu thematisieren, worüber die Gaulands dieses Landes gerne 24/7 reden möchten. Auch die Themen vieler Tageszeitungen erscheint oft unverhältnismäßig. Die mutmaßliche Vergewaltigung einer Frau durch einen Syrer füllte vorgestern Dutzende Gazetten. Das ist natürlich auch eine Meldung. Allerdings werden in Deutschland durchschnittlich 20 Vergewaltigungen am Tag angezeigt – die sind kein Thema. Gestern dann eine weitere Nachricht, die für Aufsehen sorgt: Ein Syrer soll eine Frau erwürgt haben. Das ist ekelhaft, der Mann gehört verurteilt. Aber ist das eine deutschlandweite Meldung? Unnötig, die Statistiken zum Thema Gewalt gegen Frauen hier aufzulisten.
Während der rechte Mob also munter „Lügenpresse“ schreit, ist diese Klientel längst ein Klick- und Quotengarant für viele Medienhäuser. Trotz der vordergründigen Anti-AfD-Stimmung in Artikeln und TV-Shows ist man inzwischen Teil eines perfekt aufgegangenen Plans, der einst in den Denkstuben von Rechtsaußen wie Götz Kubitschek erdacht wurde.
Zeit für sämtliche Beteiligten, einfach mal die Fresse zu halten und zu überlegen, was die eigentlichen Debatten sind. Ich fange hiermit an.
Lesen Sie zu diesem Thema auch die Kolumne „Der Einzelfall Ali B.“ von Fatma Aydemir.
Leser*innenkommentare
849 (Profil gelöscht)
Gast
Wie soll man die Fresse halten, wenn es offenbar ein Komplott gibt im öffentlichen Diskurs, das durch intellektuelle Unredlichkeit immer weiter befeuert wird? Seit der Meinungskrieg angezettelt wurde, muss auch zurückgeschossen werden, selbst wenn differenzierte Einwände dabei wenig Chancen haben. Der um sich greifenden bräunlichen Demagogie muss schließlich etwas entgegengesetzt werden...
Maxx Murxx
Nur zum Zwecke der Vossltändigkeit:
1. NICHT die Schnauze zu halten und sich einzumischen sind Merkmale einer gut funktionierenden Demokratie.
2. Es geht nicht um fehlerhaft ausgestellte Asylbescheide, sondern um Asylbescheide, die Aufgrund von Bestechung vorsätzlich falsch ausgestellt wurden. Grob gesagt: es geht um Korruption.
3. Bei der "mutmaßlichen Vergewaltigung durch einen Syrer" geht es um den, inzwischen gestandenen, MORD an einer jungen Frau durch einen Syrer, möglicherweise in Tateinheit mit Vergewaltigung.
4. Auch wenn "jemanden erwürgen" bedeutet: "jemandem Gewalt anztun" ist beides nicht einfach gleichzusetzen.
Kolyma
@Maxx Murxx Herr Murxx: man muss ja nicht die Schnauze halten, aber bei den Fakten sollte man schon bleiben: es gibt überhaupt keinen Hinweis auf Bestechung bei den positiven Bremer BAMF-Bescheiden.