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Kolumne Lügenleser„Slow Food“-Menü für den Alltag

Der neueste Trend? Entschleunigung. Unser Kolumnist hat ihn getestet. Das Internet ist an ihm vorübergerauscht und er hat nichts verpasst.

Ein Kater vom Wein ist genauso sicher wie dumme Kommentare im Internet Foto: dpa

E ntschleunigung ist groß im Kommen. Zumindest wenn man der Köchin glaubt, die uns seit 15 Minuten über die Naturweine aufklärt, die, weil sie keine Sulfite enthalten, angeblich kein böses Erwachen verursachen. Mein Einwand, der Kater sei sowieso nur ein Symptom von Hobbytrinkern und somit in meinem Leben von Haus aus obsolet, wird ignoriert. Dann wird das „Slow Food“-Menü ausführlich besprochen. Effekt: Hunger und Durst steigern sich ins Unermessliche.

Meine liebreizende Begleitung raunt mir ins Ohr, „ein Burger-Laden hätte es auch getan“. Nach einer gefühlten Ewigkeit dann der erste Gang. Positiver Nebeneffekt der Warterei: Niemand meckert über das Essen.

Nun wissen wir alle, gemeckert wird in diesem Land allzu gerne und oft. Und da, wo die Entschleunigung am wenigsten Platz zur Entfaltung hat, im Internet, da kann man generell gar nix mehr machen, ohne dass irgendjemand um die virtuelle Ecke kommt und etwas daran auszusetzen hat.

Ein Milliardär spendet Millionen an eine Organisation für benachteiligte Kinder? Er hat’s ja eh, und warum nicht schon früher? Menschen aus aller Welt treffen sich in Hamburg, um vollkommen nachvollziehbar gegen jene Staatschefs und eben noch kritisierten Milliardäre zu protestieren, die der eigentliche Adressat des eigenen Unmuts wären? Die sollen erst mal arbeiten gehen und nicht auf Steuerzahlerkosten Steine werfen. So geht das tagein, tagaus. Wo Dinge passieren, da wird schnell gemeckert. Ich hab die Schnauze voll davon.

Also ziehen wir uns für ein paar Tage in die Hochburg der Entschleunigung zurück. In die Schweiz. (Keine Angst, nicht auf Steuerzahlerkosten.) Nach einem verlängerten Wochenende im Land der hauptberuflichen Langsamsprecher und Langzeitdenker erreichen uns zu Hause die üblichen Nachrichten. Obama war in Berlin. Roger Moore ist tot. Trump hatte offenbar eine Menge Spaß während seines Besuchs in Jad Vaschem und sich nebenbei noch 20 andere Fauxpas geleistet.

Sicherlich gab es zu jedem dieser Themen wegweisende und hochspannende Debatten auf Facebook & Co. Obama war nämlich eigentlich schlimmer als Trump und Roger Moore sowieso der schlechteste James Bond aller Zeiten. Also nach dem aktuellen, weil das Aktuellste ist auch immer das Schlimmste. So schlimm wie jetzt war es nämlich noch nie. Außer während des Zweiten Weltkriegs, der Völkerschlacht, des Mittelalters und der Kreidezeit. Ich habe all diese wichtigen Netzdiskus­sio­nen der letzten Woche leider verpasst.

Vielleicht ist es mit dem Internet wie mit dem Rock ’n’ Roll, der Blues gehört dazu. Aber wenn das einzige Übel der Entschleunigung langsam sprechende Eidgenossen und merkwürdig schmeckende Weine ohne Sulfite sind, dann verzichte ich in Zukunft liebend gerne auf die immer gleichen Satzbausteine, die man heutzutage Diskussionen nennt. Denn eins ist klar: Im Internet wurde noch niemand von einer anderen Meinung überzeugt, und einen ordentlichen Kater kriegt man auch mit Naturweinen hin, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche und der Schwachsinnskommentar im Internet.

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Juri Sternburg
Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  
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