Kolumne Liebeserklärung: Idomeni, wunderschöner Schandfleck
Das Flüchtlingscamp an der griechisch-mazedonischen Grenze ist Geschichte. Das europäische Versagen dauert an – anderswo.
E rbarmungslos walzen dich gelbe Bagger platt. Ihre Schaufeln reißen die Zelte ein, die wie kleine bunte Perlen aus deinem staubigen Boden gesprossen waren. Sie wühlen sich durch den schimmernden Schlamm, in dem in diesem Frühjahr ganz Europa versunken ist. Oh, liebes Idomeni, in ein paar Tagen bist du Geschichte.
Europa will dich nicht mehr sehen. Deine Neugeborenen, die im kalten Wasser deiner Pfützen gewaschen werden. Deine Männer, die mit bloßen Händen an den Zäunen aus Natodraht rütteln. Die dabei verzweifelt um die Öffnung der Grenze flehen. Und auch nicht deine Frauen, die nachts ganz nah an ihre Kinder rücken, damit die kleinen Körper nicht auskühlen.
Dabei bringen uns die Nachrichten nicht einmal deinen Geruch ins Wohnzimmer. Dein Bouquet aus verbranntem Plastik, Schweiß und Fäkalien, das sich in den Haaren festsetzt.
Jetzt macht dich Europa unsichtbar, bringt deine Menschen weg. Macht Versprechungen und bricht sie. Spricht von Häusern mit festen Wänden, Strom und Wasser, das nicht unter die Schlafsäcke fließt, sondern aus dem Hahn. Bringt deine Menschen doch wieder in Zelten unter, nur anderswo. Weit weg von dir.
Europas Botanische Gärten werden nach und nach geschlossen. Ob sie noch zu retten sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. Mai. Außerdem: Elf kongolesische Blauhelmsoldaten stehen vor einem Militärgericht – wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs im Rahmen der UN-Friedensmission in der Zentralafrikanischen Republik. Kann nun Recht gesprochen werden? Und: Am 5. Juni stimmen die Schweizer über das bedingungslose Grundeinkommen ab. Wie lebt es sich damit? Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Oh, Idomeni, du wunderschöner Schandfleck. Europa konnte die Augen nicht von dir lassen. Konnte nicht länger leugnen, dass seine Grenzen Leben zerstören. Dass das Leben bei uns nicht für alle lebenswert ist. Dass wir versagen.
Oh, Idomeni, ich werde dich vermissen. Deinen Dreck, dein Elend, deine Not. Sonst ist es versteckt, das Leid. In Unterkünften hinter hohen Zäunen, in alten Kasernen und Baracken. Aber es ist da. Du hast uns gezwungen, hinzusehen und zu handeln.
Aber es muss weitergehen – auch ohne dich. Ich hoffe, du verstehst das. Ich hab’ eine Neue. Sie ist jünger als du. Liegt an der serbisch-ungarischen Grenze. Spiegel Online nennt sie „Europas neues Elendslager“. Jetzt sprießen die bunten Perlen aus ihrem Boden. Nur ihr Name klingt nicht so schön wie deiner. Röszke.
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