Kolumne Habibitus: Ausblick aus dem Niemandsland
Die Gender-Jihadist_innen haben die heteronormative Welt zum Schlachtfeld erkoren und lassen Diskursbomben platzen. Eine Innenperspektive.
![Zwei Personen fahren bei Sonnenuntergang mit dramatisch bewölktem Himmel auf einer Achterbahn. Zwei Personen fahren bei Sonnenuntergang mit dramatisch bewölktem Himmel auf einer Achterbahn.](https://taz.de/picture/2063794/14/82374598.jpeg)
Jung, brutal, nicht-binär: Das umfasst einen großen Teil meiner Generation. In den USA identifiziert sich eine knappe Mehrheit der 13- bis 20-jährigen auf irgendeine Weise als queer, die Hälfte aller Millennials (*1980–2000) betrachtet Gender als Spektrum, nicht als Zweiteilung. 2,5 Millionen Deutsche identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, so die Zeit-Vermächtnis-Studie. Es könnten noch mehr sein, wüssten mehr Leute, dass der Gender-Exit eine Option ist, sage ich.
Die Zeit-Magazin-Journalistin Julia Friedrichs muss von diesen Zahlen auch Wind bekommen haben, immerhin las sie (nach eigenen Angaben) knapp 300 Seiten Text aus dem deutschsprachigen Gender-Debatten-Sumpf der letzten drei Jahre und schrieb eine Titelstory, „Der Kampf um das Geschlecht“. Wir wollen kein Stück vom Kuchen, auch nicht die Bäckerei, sondern die gesamte Backwarenindustrie. Gender-Jihad quasi. I came to slay, bitch!
Es scheint ein Ding unter Zeit-Journalist_innen zu sein, Expertise durch fragwürdige Quellen (300 Seiten Texte, ein Jahr in Antideutschland, ein Syrer) vorzutäuschen, aber heute begeben wir ins nicht nach Bourgieland, sondern ins Niemandsland. Jenseits von Frau- und Mannsein. Dort leben, nein, wandeln Menschen wie ich nämlich. Das mutet kolonial an und klingt sehr düster, doch das ganze Feuer erhellt die Sicht.
Mit „Brutalität, mit Anfeindungen, Vernichtungsfeldzügen und Shit-Storms“ hangeln wir uns vorbei an der heteronormativen Welt in pink gestrichene Szene-Bars gentrifizierter Nachbar_innenschaften. Irgendwie bizarr, irgendwie freaky, findet Friedrichs. Und kompliziert, das mit diesen abgefahrenen Pronomen und Kategorien fällt nämlich auch ihr schwer.
Belastende Mitte
Aber das Staunen kommt auch von meiner Seite. Interessant, diese heteronormative Welt, in der es schwerer ist, trans Personen mit Respekt zu begegnen – sich etwa ihre Pronomen und Namen zu merken – als einen Auftrag für eine extrem erwartbare Zeit-Magazin-Titelstory zu bekommen.
In einem Satz zusammengefasst: Der Genderwahn geht rum, reaktionäre Rechte hassen ihn, Queerfeminist_innen sind von ihm besessen, haha, diese Freaks, alles kompliziert irgendwie, ich betrachte das Phänomen mal aus der Mitte™ und habe 300 Seiten über diese Debatten gelesen, aber irgendwie verpasst, dass es ein No-go ist, die alten Namen von trans Personen zu nennen, oder dass der Begriff „Zwitter“ als Bezeichnung für Menschen outdated und diskriminierend ist, na ja, ganz ehrlich, können wir nicht einfach beim generischen Maskulinum bleiben, das bockt doch eh viel mehr und warum sind diese Gendertrender_innen eigentlich so militant, wo bleibt der Dialog?
Hand aufs Herz, Julia, mir fällt es auch schwer, eure Namen auseinanderzuhalten (Juliane? Jule? Juliett? Jutta? Julian?) oder wirklich zu glauben, dass heterosexuelle Romantik wirklich so überwältigend ist, wie Nicholas Sparks es behauptet, aber ein zwölfseitiger und trotzdem hohler Text ist doch auch irgendwie extra. Um in deinen Worten zu bleiben: Hast du nichts Besseres zu tun?
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