Kolumne Geht's noch: Journalismus? Ach was!
Die „Süddeutsche Zeitung“ bittet Lobbyverbände um Lobbypropaganda. Das Ergebnis verwundert nicht: Panik vor dem Mindestlohn.

Erdbeeren werden teurer, wenn diese Frau mehr als drei Euro die Stunde verdient – sagen die Lobbyisten, wenn man sie bittet. Bild: dpa
Was, zum Teufel, haben sie sich bei der Süddeutschen Zeitung in der Hultschiner Straße nur dabei gedacht? Haben sie überhaupt gedacht? Am Mittwoch machte die Qualitätszeitung aus München-Zamdorf mit der Schlagzeile „Mindestlohn treibt die Preise“ auf Seite 1 auf.
Grundlage dafür: nicht die Berechnung eines Wirtschaftsinstituts. Sondern: eine Umfrage der SZ unter Lobbyverbänden der Agrar- und Verkehrsbranche. „Wir müssen davon ausgehen, dass sich bestimmte Produkte wie Erdbeeren oder Spargel verteuern“, antwortete der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands (DBV), Bernhard Krüsken. Und zwar um 10 bis 30 Prozent. Ähnlich jammerten die Taxilobbyisten.
Was hätten sie auch sonst antworten sollen? Gute Lobbyarbeit besteht ja nicht darin, darüber zu reden, dass die eigenen Gewinne durch neue Gesetze bedroht sind, sondern möglichst große Gefahren für die Bevölkerung an die Wand zu malen. Lobbyverbände verschicken derartige Pressemitteilungen jeden Tag.
Schlechtere Zeitungen drucken den PR-Müll 1:1 ab. Das ist Routine. Aber auf die Idee, Lobbyverbände um Lobbypropaganda zu bitten, wenn sie selbst einmal die Füße still halten; keine Gegenstimme dazu einzuholen, in der Überschrift die Lobbymeinung als gesicherte Tatsache auszugeben und alles als Aufmacher auf Seite 1 zu drucken – auf die muss man erst mal kommen.
Weil die Süddeutsche als seriöser Branchenprimus gilt, zitierte innerhalb kürzester Zeit die Konkurrenz die SZ-Meldung: „Folgen des Mindestlohns: Was 2015 alles teurer wird“ (Huffington Post), „Mindestlohn könnte Lebensmittel verteuern. Für Spargel und Erdbeeren dürften Kunden künftig deutlich mehr bezahlen“ (Welt), „Verbände schlagen Alarm. Mindestlohn verteuert Spargel und Taxifahren“ (Bild), „Spargel, Erdbeeren, Taxifahrten: Mindestlohn treibt die Preise massiv in die Höhe“ (Focus), „Mindestlohn verteuert Spargel“ (Südwest Presse).
Für den Deutschen Bauernverband muss der Mittwoch wie Weihnachten und Ostern an einem Tag gewesen sein.
Leser*innenkommentare
tazzy
Einige Redakteure in der taz hatten es ja inzwischen begriffen, aber wie man hier leider sieht, offenbar einige immernoch nicht. Deshalb hier nochmal groß zum Mitschreiben:
BITTE KEINE AKTIVEN LINKS AUF HETZMEDIEN SETZEN!
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Irmi
Hallo Herr Reeh, das die dt. Lebensmittel im europäischen Mittel überdurchschnittlich teuer sind (http://www.deutschlandradiokultur.de/ernaehrung-unsere-lebensmittel-sind-nicht-zu-billig.993.de.html?dram:article_id=282617), hat der DBV mit seinen Befürchtungen sogar Recht.
Das " Jammern" ist übrigens kein dt. Phänomen: http://www.lid.ch/de/aktuell/agronews/detail/article/2014/03/28/gemueseproduzenten-stellen-sich-gegen-mindestlohninitiative/?disableRealUrl=1&cHash=b61f6c30a5
Am ehesten spüren Mindestlöhne aber die Biobauern: soviel Handarbeit (http://www.topagrar.com/news/Home-top-News-Deutscher-Oekolandbau-von-Billig-Konkurrenz-abgehaengt-1434965.html)
688 (Profil gelöscht)
Gast
Gepflegte Bewußtseinsschwäche in Angst, Gewalt und teils LOGISCH brutal-egoisierendes "Individualbewußtsein", für die Hierarchie von und zu materialistischer "Absicherung" im nun "freiheitlichen" Wettbewerb um "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei"!
Da ist gallopierender Stumpf-, Blöd- und Wahnsinn doch KEIN Wunder, besonders aus der Ecke der Medien, wo die besonders von der Konfusion in Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL leben!? ;-)
Hanne
Na, vielleicht essen die SZ-Redakteure selbst ja gerne Spargel und Erdbeeren und fahren mit dem Taxi...
Ansonsten eine wirklich sehr blöde Aktion!
Es ist noch keine 20 Jahre her, da gab es solche Hungerlöhne in Deutschland überhaupt nicht und wir haben dennoch gut leben können - oder erst recht?
Wenn ich dran denke, was ich als Schüler und später als Student schon für vergleichsweise gute Aushilfslöhne bekommen habe. Und da waren auch jahrelang Ernteeinsätze (im Westen Deutschlands) dabei, ebenso Regale einräumen in Supermärkten, diverse Jobs im Hotel u.v.m.