Kolumne Fremd und befremdlich: Unangebrachte Demut
Ich freue mich nicht über das Frauenwahlrecht. Die, die sich darüber freuen, sind demütig. Und dazu bin ich nicht bereit.
N iedersachsen feiert 100 Jahre Frauenwahlrecht mit einem Festakt und mit Ausstellungen zur Geschichte des Frauenwahlrechts in Hannover und Lüneburg. Das ist schön.
Aber wer wollte sich heute noch dagegen aussprechen? Auch der Mann, der täglich den „Genderwahn“ anprangert, spricht sich nicht mehr gegen das Frauenwahlrecht aus. Das Frauenwahlrecht ist ihm ziemlich egal. So wie es ihm egal ist, dass die Frau Auto fährt, ein Girokonto hat, ein Bewerbungsgespräch führt oder Hosen trägt. Dies alles sind Dinge, die sind auch für den härtesten „Männerrechtler“ Selbstverständlichkeiten. Da will er gar nicht mehr dran rütteln.
Soll ich mich heute darüber freuen, dass ich wählen darf? Es macht mich, wenn ich darüber nachdenke, eher wütend, dass ich als Frau irgendwann einmal nicht das Recht zur Wahl hatte. Vielleicht ist das ein Grund, daran zu erinnern, damit wir uns die Wut bewahren? Denn freuen können wir uns doch darüber nicht.
Freuen konnten sich vielleicht die Frauen, die damals kämpften, freuen konnten sie sich über einen Erfolg ihrer Bewegung. Aber sollen wir uns heute darüber freuen, dass wir wählen dürfen? Dass wir Rechte haben? Ich bin dazu nicht bereit. Ich freue mich nicht darüber. Die sich darüber freuen, die sind demütig.
Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen. Dies ist ihre 250. Kolumne in der taz.
Ich bin den Frauenrechtlerinnen dankbar, dass sie sich für mich eingesetzt haben, aber ich bin nicht der Gesellschaft dankbar für mein Wahlrecht. Ich bin nicht dankbar, dass ich als Frau dieselben Rechte habe wie ein Mann. Soll ein freigelassener Sklave dankbar für seine Freiheit sein? Soll ein Mensch dankbar sein, dass er nicht misshandelt wird? Und wem? Gott? Der Gemeinschaft?
Ich lese immer wieder, wenn es um Gleichberechtigung geht, dass Frauen hier in Deutschland doch dankbar sein sollen, weil sie hier Auto fahren dürfen, weil sie hier nicht verschleiert sein oder ihren Mann um Erlaubnis fragen müssen, wenn sie eine Arbeit anfangen. Dass sie froh sein sollen, dass sie hier und nicht in einem Land leben, in dem es den Frauen schlechter geht.
Dafür sollen diese Frauen, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, dankbar sein, anstatt sich zu beschweren. Das lese ich immer wieder in sozialen Netzwerken, in den Kommentaren, wenn es um irgendein Thema geht, in dem es um die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern geht.
Schräge Logik
Froh sollten die Frauen sein. Und froh bin ich dann nicht. Denn warum soll es mich froh machen, dass es anderen Frauen schlechter geht als mir? Warum soll ich aufhören, mich um mich zu sorgen, um meine Rechte zu streiten? Weil, im Verhältnis gesehen, meine Sorgen gering sind? Das ist die Logik?
Dankbar sollen Frauen sein. Schätzen können, was sie haben. „Frauen leben durchschnittlich zehn Jahre länger als Männer. Sie beziehen dadurch auch länger Rente. Sie brauchen keine schweren körperlichen Arbeiten zu verrichten. Was wollen sie noch?“ (Aus einem Kommentar) Das fragt sich der Mann.
Was wollen diese Frauen denn noch? Ich kann es ihm sagen: Lieber Mann aus der Kommentarspalte, ich will alles. Alles, was du hast, alles, was du darfst, ohne in der Gesellschaft dafür angemacht zu werden, das will ich auch haben. Nichts soll es mehr geben, das du als Mann darfst und ich nicht.
Macht der Gewohnheit
Ich will dafür weder dankbar sein noch mich freuen müssen. Ich will vielleicht sogar so lange zornig bleiben, bis wir alle auf dieser Welt vollkommen vergessen haben, dass Frauen und Männer jemals unterschiedliche Rechte hatten. Dass es jemals unterschiedliche Normen und gesellschaftliche Zwänge für unterschiedliche Geschlechter gegeben hat.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht doch gut, sich an die Einführung des Frauenwahlrechts zu erinnern. Wir sehen, wie Dinge, die damals unerhört waren, uns heute gewöhnlich erscheinen. Wir haben uns daran gewöhnt, auch die Männer. Wir finden es gar nicht mehr komisch oder falsch. Wir haben uns alle miteinander daran gewöhnt. Das ist das Ziel.
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