Kolumne Fremd und befremdlich: Der Druck steigt

Religion darf nicht als Grund genommen werden, andere zu unterdrücken. Das gilt für den Islam ebenso wie für das Christentum.

Ein Priester gießt einem Jungen Wasser über den Kopf

Sich taufen zu lassen, ist okay. Sich nicht taufen zu lassen, auch Foto: dpa

Am Freitag saßen in der Bahn zwei kleine Jungen vor mir und unterhielten sich über den Ramadan. „Ich hab’gefastet“, sagt der eine immer wieder, fast verzweifelt in seiner ständigen Rechtfertigung. „Echt, ich hab’gefastet.“

Der Andere lächelt nur höhnisch. „Und hast du auch gebetet? Wenn du nicht gebetet hast, dann hast du auch kein’Ramadan gemacht.“ „Aber ich hab gefastet“, bekundet der erste Junge wieder. „Aber gebetet hast du nicht. Du musst fünfmal am Tag beten. Weißt du überhaupt, wie das geht? Wie man betet? Fünf mal am Tag musst du beten.“

„Ich bete ja“, sagt der erste Junge kleinlaut. „Am Freitag hab’ich gebetet.“ „Am Freitag? Du musst jeden Tag beten. Fünfmal. Du bist kein Muslim. Gehst du überhaupt in die Moschee?“ „Am Freitag war ich in der Moschee.“ „Am Freitag! Du gehst nur am Freitag in die Moschee, und du betest nur einmal, ey! Du musst immer in die Moschee gehen. Du musst zu …gehen, da lernst du alles, beten und alles.“

Der erste Junge schweigt beschämt, den Tränen nahe. Dann müssen sie aussteigen. Ich bleibe zurück und denke nach. Ich wohne seit 1994 in Hamburg, aber erst in letzter Zeit, so kommt es mir vor, bemerke ich solche Vorgänge. Ein Mädchen berichtete mir dies aus der Schule. Ein Muslim setzt einen anderen Muslim unter Druck, weil er, in seinen Augen, die Religion nicht konsequent genug ausübt. Es stört mich. Es waren nur kleine Jungen, aber kleine Jungen plappern nur nach, was ihnen größere Jungen, Brüder, Väter vorgesagt haben.

Wir können auf unsere eigene Weise gläubig sein, aber wir dürfen keinen Druck ausüben

Ich war kurz davor, mich einzumischen. Aber wie kann ich mich einmischen, was hätte ich diesem vollkommen fremden Jungen sagen sollen? Ich bin keine Muslima und kann einem muslimischen Kind doch nichts sagen. Hätte ich bei einem ähnlichen Gespräch unter Christen gesagt: Lass dich nicht verunsichern. Es gibt keine solchen Vorschriften? Ich weiß es doch gar nicht. Ich weiß überhaupt nichts über den Islam. Und warum führen kleine Jungen in der U-Bahn solche Gespräche? Meine Wahrnehmung ist subjektiv. Meine Wahrnehmung kann gar nicht anders sein.

Die Muslime, die ich kennengelernt habe, waren offene, freundliche und kluge Menschen. Es war mir egal, wie sie ihre Religion leben. Unter meinen besten Freunden sind Katholiken. Ihre Kinder haben sie zur Erstkommunion mit neun Jahren zum Beichten geschickt.

Das fand ich keine schöne Sache, aber es war ihre Entscheidung, und mehr, als auf ihre Religion, vertraute ich auf ihre menschlichen Eigenschaften, ihre sozialen Fähigkeiten, auf ihren Verstand. Sie haben ihre Kinder zu verantwortungsbewussten, moralischen Menschen erzogen.

Manchmal kann ich einer Religion etwas abgewinnen

Ich teile nicht alle christlichen Werte. Auch wenn das Christentum in meinem Land eine längere Tradition hat. Ich teile vermutlich noch weniger muslimische Werte, aber es gibt Überschneidungen. Und manchmal kann ich einer Religion sogar etwas abgewinnen. Ich denke mir dann, die Gläubigen haben immerhin Werte, eine Orientierung, sie nehmen sich zurück, achten die Gemeinschaft. Und alles dies sollen sie tun dürfen, aber sie sollen nicht andere Menschen unterdrücken oder über sie bestimmen.

Das muss vorbei sein. Das darf es in unserer Gesellschaft nicht mehr geben. Wir können ohne Glauben sein. Wir können auf unsere eigene Weise gläubig sein. Wir können am Bahnhof den Wachturm verkaufen und fremde Menschen fragen, ob sie mit uns über Gott reden möchten, aber wir dürfen andere Menschen nicht unter Druck setzen, auch nicht, wenn wir Muslime sind. Ich weiß nicht, ob es wirklich eine diesbezügliche Entwicklung gibt oder ob es nur ein persönlicher Eindruck ist.

Wenn Kinder, deren Eltern schon in Deutschland geboren sind, sich radikalisieren, während deren Großeltern, die vielleicht als Gastarbeiter her kamen, weniger streng die Regeln der Religion auslegten, das wäre keine schöne Entwicklung und nicht nur ein Problem der Muslime. Denn es sind auch unsere Kinder, Kinder unseres Landes und unserer Gesellschaft. Ich weiß nur überhaupt nicht, was man tun kann.

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Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.

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