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Kolumne FernsehenDer Realitätschecker

Jürn Kruse
Kolumne
von Jürn Kruse

„Tatort“, „Grey's Anatomy“ und Talkshows: Über Realismus und Glaubwürdigkeit im Deutschen Fernsehen.

Ist vielleicht nicht ganz realistisch. Soll aber schließlich auch nur unterhalten: Der „Tatort“ Bild: dpa

M it meinem Kumpel Carsten Fernsehen zu schauen, kann sehr anstrengend sein. Carsten gehört zu den Das-ist-doch-nicht-realistisch-Nörglern. Einen „Tatort“ guckt er nur, um sich 90 Minuten lang darüber aufzuregen, dass doch nun wirklich kein Ermittler sooo handeln würde.

Mit der Gabel in der Hand das Geiseldrama auflösen zu wollen, statt auf das Sondereinsatzkommando zu warten, zum Beispiel. Oder überall mit dem Auto hinzufahren, um dann 40 Sekunden zwischen Tür und Angel mit dem Verdächtigen zu sprechen und dann 60 Kilometer zurückzukacheln.

Oder dass sich die Befragten nie hinsetzen, wenn mit ihnen geredet wird, sondern einfach weiter ihrem Tagesgeschäft (Blumen gießen, Bad schrubben, Dachstuhl errichten) nachgehen: Interessiert mich ja nicht, dass ich hier gerade wegen eines Mordes vernommen werde. Carsten lacht viel während eines „Tatorts“. Glücklich wirkt er dabei aber nicht.

Bild: privat
JÜRN KRUSE

ist Medienredakteur der taz.

Carsten hat mir angeboten, dass ich, sollte ich jemals eine Kolumne über Realismus und Glaubwürdigkeit im deutschen Fernsehen schreiben wollen, ihn doch anrufen solle. Er hätte noch eine Menge zu erzählen. Ich hab mir den Anruf gespart. Kumuliert haben Carsten und ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon Monate gemeinsam vor dem Fernseher verbracht.

Ein „Tatort“ ist eben keine Doku

Diese Studie am lebenden Objekt muss reichen – denn sie führt mich immer wieder zu derselben Frage: Was will er stattdessen sehen? Zwei Beamte, die eine Mappe nach der anderen mit Aktenzeichen versehen, mal eine Order an die Sekretärin rausgeben, dass der Herr Maier doch bitte vorgeladen würde, Protokolle abtippen und um 12.30 Uhr den Kollegen fragen, ob er mitkomme zum Mittag?

Ein „Tatort“ ist nun mal Fiktion, keine Doku. Keiner geht davon aus, dass „Emergency Room“, „Grey’s Anatomy“ oder „Scrubs“ auch nur an der Fassade der Wahrheit des Arztberufs kratzten, doch beim „Tatort“ oder beim „Polizeiruf“ scheinen Spannung und unbedingter Realismus gefordert zu werden.

Doch Carsten nerven ja nicht nur die Krimis. Auch sämtlichen Gästen in allen Talkshows dieser Republik spricht er die Befähigung ab, über ihr Themengebiet Auskunft geben zu können. Am schlimmsten seien die, die über den Nahostkonflikt oder den Krieg in Afghanistan schwafeln. Mit einer Ausnahme: Peter Scholl-Latour. Dem glaubt Carsten alles, schließlich hat der überall schon mal gekämpft. Dass man ihn nicht versteht, weil sich dessen Worte schon im Mund überschlagen – was soll’s.

Ich weiß jetzt schon, dass ich mich in der Karwoche 2013 wieder mit Carsten vor den Fernseher hocken werde. „Gammeln und Lümmeln“, nennen wir das. Dann zeigen Arte und SWR „Zeit der Helden“. Eine Woche lang wird eine Handvoll Protagonisten in der Midlife-Crisis begleitet. Jeden Abend eineinhalb Stunden quasi in Echtzeit. Der Zuschauer schaltet sich in das – zumindest theoretisch – in diesem Moment passierende Geschehen ein. Zwar sind Schauspieler am Werk, doch soll das Ganze so nah an der Wahrheit sein wie möglich. Mal schauen, ob das seinen Realitätscheck besteht.

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Jürn Kruse
Ist heute: Redaktionsleiter bei Übermedien und freier Autor. War mal: Leiter des Ressorts tazzwei bei der taz. Davor: Journalistik und Politikwissenschaft in Leipzig studiert. Dazwischen: Gelernt an der Axel Springer Akademie in Berlin.
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9 Kommentare

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  • H
    Harald

    Die Situation des Tatort ist ja nicht, daß dort unrealistisch inszeniert oder schlecht gespielt wird. Mit gleichem Recht könnte dies auch dem Werbefernsehen vorgeworfen werden.

     

    Beide Formate sind zu 100% an ihre Zielgruppe angepasst, deren Bedürfnis und Vorstellung dort auf das Vorzüglichste bedient wird.

     

    Der Tatort wendet sich an Zuschauer, die "Sturm der Liebe", "Liebe am Fjord", "Lindenstrasse", "37 Grad", "ZDF Herzkino", "Rosamunde Pilcher", "Domian", "Der Dicke", "In aller Freundschaft", "Im Tal der wilden Rosen", "Pfarrer Braun", "Menschen bei Maischberger", "Mord mit Aussicht", "Heiter bis tödlich", "Um Himmels willen", "Der Bergdoktor", "Inspector Barnaby, "Carmen Nebel" usw. usw. usw. ... sehen wollen.

     

    Diese Zielgruppe wünscht keinem Unvorhergesehen ausgesetzt zu werden, weshalb das immergleiche Szenenpflichtenheft mit den immergleichen Dialogen, heruntergebrochen auf den immergleichen Erlebnishorizont und die immergleiche Vorstellungswelt der Zielgruppe, zur immergleichen Anwendung kommt.

     

    Das Wichtigste für diese Zielgruppe ist, immergleich emotional angesprochen zu werden, ohne dabei überfordert zu werden. Gern gesehen ist Erschütterndes und Tragisches, möglichst beispielhaft eingebunden in ergreifende, aktuelle gesellschaftliche Probleme der heutigen Zeit. So steht auch immer das filmische Privatleben der Ermittler, d.h. seine Verwerfungen und Tragödien, im Mittelpunkt der emotionalen Auseinandersetzung. Besonders beliebt ist das vielszenische Ausloten von emotionalen Grenzerfahrungen der Zielgruppe, mit entsprechender, immergleichen musikalischen Untermalung.

     

    Der Zielgruppe wäre es nicht zumutbar, würde der "Tatort" ein anders Konzept verfolgen, als das der o.a. Referenzformate. So kann die Zielgruppe ganzjährig, rund um die Uhr, auf jedem Sender das Gerät einschalten und muss dabei nie unliebsame Überraschungen erleben.

     

    Früher gab es die Unsitte, daß im Nachtprogramm schon mal Filme für Minderheiten, z.B. Krimis, liefen. Damit ist es zum Glück vorbei. Das war der Zielgruppe nicht länger zuzumuten.

  • V
    vic

    Peter Scholl-Latour findet er gut, der Carsten.

    Ausgerechnet den schlimmsten Klugscheisser ever.

  • JO
    Johann Otto

    Ich schlafe sehr schlecht, seit ewigen Zeiten, und das muß ich hier mal eingestehen, der Sozialneid zerfrißt mich, und zwar gänzlich. Da hilft mir im bloßen Schüren auch keine SPD. Und deshalb finde ich an den Krimis immer sehr gut und sehr schön, und ich verpasse deshalb auch keinen einzigen, auch keine Wiederholung: die Armen in Deutschland, also die wirklich in bitterer Armut leben, die vor Hunger den ganzen Tag zittern, und das sind ja durch den Neoliberalismus und die Häddschfongs (Hegdefonds) fast alle Deutschen mittlerweile, also die Armen sind in der Regel grundgütig, trotz dieser elenden Kapitalismusverhältnisse; die Reichen hingegen, die mit einem goldenen Löffel im Hintern (Arsch?) geboren werden, das sind stets die ganz Fiesen, also wirklich Fiesen, die Verbrecher. Und Frau Furtwängler kriegt das am Ende immer raus, und packt sie am berühmten Schlafittchen. Wenn das zum Schluß immer passiert, dann freue ich mich, wenn so ein Geld- und Pfeffersack, auch wenn er aussieht wie Justin Bieber, in den Knast muß, mit Tatü und Tata, lebenslänglich. Und ich weiß ja auch inzwischen, im Knast sind immer welche mit Muskeln, die für einsitzende reiche Justin-Bieber-Kriminelle etwas übrig haben, wenn die so sehen, was das zugelaufene Häschen so früher mal im Hintern hatte. Die machen sich über ihn her, mit Gewalt und so schön geil, und das geschieht ihm ja auch zu Recht. Im Krimi wie im richtigen Leben, weil er ja so fies reich war und ist. Im deutschen Krimi wird die soziale Schieflage wieder geradegerückt.

  • JO
    Johann Otto

    @SunJohann: Was nützt uns aber das Klima im deutschen Krimi, ob nun privat oder öffentlich-rechtlich, wenn das Klima nicht durchgegendert ist. Dem wird wirklich zu wenig Beachtung geschenkt. Also, bitte! Das gehört jetzt hier eigentlich nicht hin, aber heute hat der Bundesrat eine NPD-Verbotsantrag gestellt. Haben die Funktionäre vom Verfassungsschutz und die Parteimitglieder die neuen Genderregeln nicht beachtet? Mal wieder typisch für Rechtsextreme, rassistisch auf dem Klimawandel herumreiten, aber mal ein Plakat grob durchgendern, das ist nicht drin. Und dann noch die Vergangenheit, an die denkt ja auch keiner mehr so richtig. Deshalb alle verhaften, danach festnehmen, anschließend in der Vernehmung verhören, danach Lesung im Bundestag, hernach Antrag durchgegendert neu stellen, NPD und Klima verbieten, verhören und verhaften! So ungefähr!

  • S
    SunJohann

    Wunderbar geschrieben, herrlich. Nebenbei gefragt: Werden in den Krimis mit nächtlicher Guido-Knopp-Stimmung die am Boden liegenden eigentlich immer noch von denen, die sich über sie hilfswillig beugen, besorgt und stirnrunzelnd gefragt, ob sie oder er o.k. sei? Hingegen erhielten vor dieser Ist-alles-in-Ordnung-Fragerei (in etwa von 1945 bis Mitte November 1982) im deutschen Spielfilm alle, denen es, am Boden liegend, nicht so gut ging, ein Glas Wasser gereicht. Das Wasser wurde ihnen eingeflößt, auch bei Bauchschuß. Und noch viel früher (UfA) gingen alle, die nicht am Boden lagen, denen es aber dennoch nicht so gut ging, aufrecht ins Wasser, im düsteren Filmhintergrund, nicht sichtbar, untermalt und unterstützt durch dramatische Guido-Knopp-Wabermusik. Könnte mir vorstellen, daß demnächst alle, die am Boden liegen, erst einmal gefragt werden, ob sie klimaneutral ihren Müll trennen und wie groß der eine oder andere ihrer Füße sei, des Fußabdrucks wegen. Klimarettung hat Vorrang. Was nützt uns auch das Glas Wasser am Boden ohne das wichtige O.k. vom Klimarat, wenn wir doch gar kein Klima mehr haben.

  • T
    tommy

    Carsten scheint ein kluger Kopf zu sein. Tatort ist wirklich Müll und total überbewertet. Die plots sind meistens unglaubwürdig, die schauspielerischen Leistungen schlecht, und wenn es sozial relevant sein soll, gleitet die Sendung schnell ins Belehrende oder in Propaganda ab. Und die zahllosen Talkshows...na ja, diese simulierten Scheindiskussionen passen gut zur deutschen "Demokratie", in der Entscheidungsträger die Bürger grundsätzlich für zu bevormundende Idioten halten, die sich keine eigene Meinung zu bilden haben (dafür hat man ja die "Experten" aus Politik und Wirtschaft).

  • S
    ScreamQueen

    Nun ja, dass keiner "davon aus(geht), dass 'ER', 'Grey’s Anatomy' oder 'Scrubs' auch nur an der Fassade der Wahrheit des Arztberufs kratzten", dem "Tatort" hingegen nicht selten mangelnder Realismus vorgeworfen wird, liegt schlicht und einfach daran, dass es den Machern obiger und vieler anderer Serien (oder glaubt tatsächlich jemand, dass die Werber der 60er Jahre samt und sonders Vollalkis und Kettenraucher waren, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als ihren Sekretärinnen auf den Arsch zu glotzen, oder dass es bei Mafiosis unterm Sofa zugeht wie bei den "Sopranos"?) gelungen ist, ein in sich stimmiges und glaubwürdiges Serienuniversum zu erschaffen, das mit ebensolchen Figuren bevölkert ist. Was die alberne Bildschlagzeilenverwurstungsmaschine "Tatort" ("Wieder ein totes Baby in Kühltruhe gefunden", "Jugendliche Schläger immer brutaler") auch dann nicht bewerkstelligen könnte, wenn sie es denn wollte, weil die "soziale Relevanz", die man sich in den ö-r Redaktionen auf die Fahnen geschrieben hat - der "Tatort" ist ja recht eigentlich in der Regel gar kein Krimi, sondern das, was man früher einen "Problemfilm" nannte, mit aufgepfropfter und zumeist nur notdürftig verflanschter 08/15-Mordgeschichte -, gepaart mit dem absurden Beharren darauf, dass der bundesdeutsche Polizist freiheitlich-demokratisch grundgeordnet, moralisch aufrecht und nicht korrumpierbar sei und das Gute am Ende den wohlverdienten Sieg davontragen müsse, den "Realismuscheck" quasi herausfordert. Aber mei, mir würde es ja schon genügen, wenn deutsche Fernsehbullen endlich mal den Unterschied zwischen "festnehmen" und "verhaften" lernen würden ...

  • T
    telefonowitsch

    ich bin auch genausoeiner! gib deinem kumpel mal den tipp, iranische filme anzusehen. da filmen die standkameras knatternde mofas, die immer kleiner werden und staub aufwirbeln. irgendwann sind sie weg. genial! mal im ernst: wann gehen superman und konsorten aufs klo? ich finde das schon sehr unglaubwürdig. deshalb hab ich keine glotze

  • R
    reblek

    "Ein 'Tatort' ist nun mal Fiktion, keine Doku." - Trotz "Fiktion" könnten sich die deutschen Krimi-Schreiber(innen) angewöhnen, den diktatorischen Sprachgebrauch durch den demokratischen zu ersetzen: "Verhaftung" durch "Festnahme" und "Verhör" durch "Vernehmung".

    "... mal eine Order an die Sekretärin rausgeben..." - Oder "einen"?

    "... spricht er die Befähigung ab, über ihr Themengebiet Auskunft geben zu können..." - Aha, "die Befähigung, zu können", als ob nicht jemand, der eine Befähigung hat, etwas kann (und umgekehrt). Von einer "Befähigung, zu können" hat niemand etwas, nur von der "Befähigung, Auskunft zu geben".