Kolumne Eier: Sie hätten da sicher anders gehandelt
Wird eine Frau bedrängt, dann schreiten Sie ein, nicht wahr? Dann sind sie anders als der gemeine S-Bahn-Passagier. Ich bin es nicht.
E s gibt zwei Möglichkeiten – entweder ich bin betrunken, dann mische ich mich gerne mal ein. Oder ich bin nüchtern, dann duck ich mich in die nächste Ecke. Und Sie so? Wer in den Hauptschlagadern eines urbanen Verkehrsnetzes unterwegs ist, erlebt immer mal wieder gewaltsame Situationen. Kein Wunder bei ein paar Millionen zusammengepresster Menschen, aber eben auch nicht schön.
Die Polizei Bremen hat in dieser Woche gemeldet, dass eine Gruppe Teenagerinnen in der S-Bahn von zwei Männern sexuell belästigt und gegen ihren Willen berührt wurde – und niemand in dem voll besetzen Zug eingeschritten ist. Niemand außer einer 15-Jährigen, die sich schließlich dazwischen stellte und sich dafür noch mehr Getatsche abholte.
Sie, liebe Männer, hätten da sicherlich anders reagiert, nicht wahr? Obwohl, ist doch eigentlich prima, wenn Frauen sich selber verteidigen, statt dass das ein Kerl übernimmt, right? 2017 ist, wenn Frauen so emanzipiert sind, dass sie ihre Belästigungen selber verwalten können. Männlich-patriarchale Beschützerrollen und Ehrenkodexe gehören abgeschafft. Feminismus!
So etwas jedenfalls doziert der rationale Teil meines Hirns in vergleichbaren Situationen, während der emotionale Teil auf Flucht schaltet und macht, dass ich meine Einsfünfundachtzig so klein in meinem Sitz zusammenfalte, dass meine Pilateslehrerin stolz auf mich wäre. Sie würden es nicht für möglich halten, wie gut sich ein erwachsener Männerkörper hinter einem einzigen Lidlkatalog verstecken lässt, sobald es irgendwo Stress gibt. Ich mag nun mal keinen Streit und schon gar keine Knöchel auf meinem Nasenbein.
Wie gesagt, Sie hätten da sicher völlig anders reagiert, ich schließe schon wieder von mir auf andere. Aber was, wenn Ihnen nicht so ganz klar ist, ob da jetzt gerade wirklich eine Belästigung stattfindet? Man kann das ja manchmal nicht so genau wissen – immer diese Grauzonen! Da könnte das ja auch einfach ein neckendes Spiel unter Bekannten sein, ne? Und dann wäre es geradezu peinlich, sich aufzuplustern und den Moralapostel zu machen, richtig?
So jedenfalls argumentiert der rationale Teil meines Hirns, während der emotionale Teil Qi Gong für Fortgeschrittene praktiziert: Wenn ich meinen Geist nur vollständig leere, dann verschwinde ich vielleicht. In der Zwischenzeit ist dann wahrscheinlich eine 15-Jährige genervt eingeschritten, alle Beteiligten sind ausgestiegen und ich bleibe mit einem gewaltigen schlechten Gewissen und einem Tarnhelm auf dem Kopf in der Bahn zurück. Woher ich den Tarnhelm habe? Sie haben ja keine Ahnung, wozu ich fähig bin wenn es darum geht, Konflikte zu vermeiden.
Natürlich hätten Sie da komplett anders gehandelt. Das hatten wir ja bereits geklärt. Allerdings nicht die Herrschaften in der Bremer S-Bahn. Und auch nicht die Passagiere bei all den ähnlichen Fällen, die man bei der Stichwortsuche in den Polizeimeldungen findet. Die waren dann wohl doch alle eher so wie ich.
Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss mir Mut antrinken, fahre gleich noch U-Bahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku