Kolumne Der rote Faden: Lausige Regression, unfruchtbare!
Einmal quer durch die Woche gesurft: Groko, Gauck, Russland, Boxweltmeister und Protest, Luftbrücke, Schnee. Und Goethe.
F ast hätte man geholfen. Denn fast hätte es geklappt mit der Luftbrücke, über die mehr als 60.000 Menschen mit etwas Nahrung, Decken und Zelten im Nordosten Syriens versorgt werden sollten. Doch es schneit zu sehr, die Aktion muss verschoben werden. Tausende Syrer werden also in den vom Assad-Regime abgeriegelten Gebieten verhungern und erfrieren? Tja – früher ging eben irgendwie nicht.
Letzte Woche gab eine UN-Sprecherin bekannt, dass auch die nächste Friedenskonferenz Genf III verschoben werden müsse. Es gebe am 22. Januar zu wenig Hotelbetten in der Stadt, und lange Anfahrtswege nähmen die Teilnehmer übel. Jetzt ist der Termin wieder offen. Bei Syrien verschiebt der Westen mit ganz leichter Hand.
Immerhin Bundesinnenminister Friedrich gibt sich angesichts der Schlagzeilen zur größten humanitären Katastrophe seit Jahrzehnten generös und will noch mal 5.000 Syrer ins geheizte Deutschland lassen, nächstes Jahr.
Die Logik ist kalt: Je mehr Syrer sterben, desto billiger für Deutschland. Und Deutschland hat jetzt die Schuldenbremse und überhaupt andere Probleme. Am Ende haben die Islamisten und das Wetter den Genozid zu verantworten. Dass Erstere vor allem Geld aus Ländern beziehen, die mit dem Westen verbündet sind, nämlich aus Saudi-Arabien und Katar, ist dabei ein lästiges Detail. Lasst uns über Chemiewaffen reden.
Unser Erdgas
Denn das mit dem Blick nach draußen, also das mit der Außenpolitik, das fällt den Deutschen nun einmal schwer. Überall wartet so viel Ärger. Auch wenn man den Ukrainer besser findet als das Gegreine der Araber nach Würde und Menschenrechten, ach Gott. Der Ruf nach Europa in Kiew interessiert die meisten auch nicht weiter, aber der deutschen Politik gefällt er ganz gut, denn das europäische Riesenland Ukraine hat Erdgas, also auch unseres.
Dieses Terrain überlässt man nicht den Russen. Weshalb der scheu gewordene Guido Westerwelle sich Mühe gibt, neben dem Boxweltmeister aus der Ukraine, also eigentlich aus Hamburg, wie ein ordentlicher Staatsmann dazustehen. So will er in die Annalen eingehen, nächste Woche, wenn die Große Koalition endlich bestallt ist und sich direkt in die Weihnachtsferien verabschieden kann.
Ein kleines Problem gibt es allerdings noch. Der Vorstoß von Bundespräsident Gauck, nicht zu den Winterspielen nach Sotschi zu fahren, sorgt unter seinen Freunden in der Berliner Republik für Grummeln. Seit wann sorgt sich der Pfarrer aus Bellevue um Homosexuelle? Tut er nicht, keine Sorge, es geht um seinen Vater.
Der wurde nach dem Krieg in ein sowjetisches Arbeitslager verschleppt, deshalb stößt dem Sohn das Großmachtgehabe Putins bis heute bitter auf. Der hat, indessen nicht faul, die Rede an die Nation gehalten und die „geschlechtslose und unfruchtbare Toleranz“ Europas belächelt, um stattdessen die russische Erfahrung im „organischen Zusammenleben verschiedener Völker“ zu preisen. Kurz: „Wir wollen Leader sein.“ Putins Wertegerüst braucht keine Diplomatie. Und doch täuscht der Mann sich.
Bieder bis zum Erbrechen
Denn von geschlechtsloser und unfruchtbarer Toleranz kann keine Rede sein. Dafür stehen die Kirchenvertreter, allen voran der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch. Entschlossen kippte man die Empfehlung der portugiesischen Sozialistin Edite Estrela, Sexualkundeunterricht und auch das Recht auf Abtreibung EU-weit zu garantieren.
Die Vorherrschaft des heterosexuellen Mannes will garantiert sein, da passen sie nach all den kleinen Rückschlägen in den Nationalstaaten jetzt auf. Den weiblichen Körper zur Mutterschaft zu zwingen, ist ein bewährtes Mittel. Das zum Thema geschlechtslos und unfruchtbar.
Und während die Rechten emsig auf die Europawahlen im März 2014 zuarbeiten, was tut das aufgeklärte Bürgertum? Es geht ins Kino. In fünf Wochen sahen knapp vier Millionen Deutsche die Teeniekomödie „Fack Ju Göhte“. Bieder bis zum Erbrechen wird über deutsche Tugenden total lustig gelacht, die Brillenträger, hö, die Streber, hihi, der rülpst ja, boah. Natürlich dreht sich am Ende und am Anfang alles um Sex, Nutte hier, Nutte da, bloß hat ihn keiner. Ausgezogen werden nämlich nur die netten Ausländerprolls von nebenan (Elyas M’Barek). Die deutschen Mädels bleiben indessen schön sauber, bringen den Straßenausländer aber am Ende auf den richtigen Weg: Schluss mit dem Bankräuberquatsch, werd Lehrer! Muttidiktatur vom Feinsten.
Wer den Geisteszustand eines Landes begreifen will, das Merkel wählt und wählt, obwohl sie nichts tut, außer festzustellen, dass niemand über irgendetwas nachdenken müsse, der hat nach dem Sichten dieses lausigen Regressionsstreifens keine Fragen mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch