Kolumne Balkongespräche: Ein Einbruch mit lehrreicher Wirkung
Nach einem Wohnungseinbruch ruft die Nachbarin die Polizei. Doch zu einem besseren Menschen macht sie das noch lange nicht.
M eine Nachbarin hat sich Karmapunkte verdient. In der vergangenen Woche haben sich in meiner Abwesenheit Einbrecher Zugang zu meiner Wohnung verschafft. Als sie die Wohnungstür aufgebrochen haben, hat das offenbar einen derartigen Lärm verursacht, dass meine Nachbarin herunterkam und rief, ob alles okay sei. „Alles okay“, antwortete eine Männerstimme. Dann hat meine Nachbarin die Einbruchspuren gesehen und die Polizei gerufen.
Die Einbrecher flohen mit meinem uralten Laptop, meiner Kamera und meiner uralten Gitarre. Das war das erste Mal, dass mein karges Leben als freie Journalistin etwas Gutes hatte: Ick hab ja nüscht von Wert, das man mir klauen kann. Sehr beruhigend. Nur die aufgebrochenen Türen sind ärgerlich.
Besonders, weil mich meine Nachbarin ja noch beim Einzug gewarnt hat. Damals hatte ich sie eigentlich nur gefragt, ob ich für einige Tage ihr WLAN mitnutzen dürfe, bis meins eingerichtet worden sei. Als sie mir den Zettel mit ihrem Passwort brachte, bat ich sie auf ein Glas Wein auf meinen Balkon.
Das war unser erstes Balkongespräch: Am Anfang erzählte sie, dass ihre Wohnung schimmelt, dass meine Vormieterinnen alle nach kürzester Zeit ausgezogen seien und dass sich in der Wohnung neben ihr jemand erhängt und sie den baumelnden Körper in der Fensterspiegelung der gegenüberliegenden Häuser gesehen habe.
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Danach schockt einen nichts mehr. Sie war auch die Erste, die mir den Spitznamen meines Stadtteils nannte: Danger-Crottendorf. Weil hier die Kriminalitätsrate so hoch sei. Das stimmt gar nicht: Nach einer Statistik aus dem Jahr 2016 liegt Anger-Crottendorf hinter allen Zentrumsteilen und fast allen Hipsterbezirken. Was lernen wir daraus? Traue keiner Statistik, die du selbst schöngeredet hast.
Den Rat sollte auch meine Nachbarin beherzigen: Damals erzählte sie mir noch, dass sie das mit dem Holocaust ja so nicht glauben könne. Sechs Millionen, niemals. Natürlich wählt sie auch die dazu passende Partei. Das Karma durch ihre nachbarschaftliche Zivilcourage hat sie also durchaus nötig.
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