Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: In der Fremde ist der Fremde fremd
In Italien herrscht Sodomie und alle Polen sind vierschrötig und stiernackig: Historische Reiseberichte sind oftmals sehr eigenwillig, subjektiv – und ehrlich.
I ch liebe historische Reiseberichte. Es interessiert mich, wie Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen zu unterschiedlichen Zeiten aufeinander reagieren. Vor allem, wenn sie völlig subjektiv und eigenwillig die Begegnung beschreiben. Dann sind sie unverfälscht, ehrlich.
Beispielsweise der Schotte William Lithgow. Durch ein Missgeschick in die Welt getrieben, reiste er Anfang des 17. Jahrhunderts quer durch Europa nach Ägypten, Tunesien, Konstantinopel. Fast immer schlecht gelaunt schildert er seine Erlebnisse: In allen italienischen Städten herrsche die Sodomie, die Bevölkerung Polens sei von Natur aus „vierschrötig, mit Stiernacken, breiten Hüften und kräftigen Beinen, sowie rohen, grobschlächtigen Gesichtern“.
Oder: „Der Hochmut der Spanier und die Höhe der Berge ihres Landes scheinen mir in einer Beziehung zu stehen. Jene versuchen mit grenzenlosem Ehrgeiz die Welt unter ihre Herrschaft zu zwingen, wie diese durch ihre grenzlose Höhe den Himmel in Furcht und Schrecken versetzten, als wollten sie Jupiter vom Throne stoßen. Und so macht der kleinwüchsige Spanier sich im Innern zu eigen, was seine Berge ganz äußerlich kennzeichnet.“
Wer Lithgow liest, wundert und amüsiert sich. Um die Objektivität, wie sie spätere Forschungsreisende pflegten, hat er sich – genauso wie Fürst Pückler-Muskau – nie geschert. Eigensinnig beschreibt er das ihm Fremde aus seinem Blickwinkel. In der Fremde ist der Fremde, der Besucher, der Einwanderer, fremd. Eurozentrismus, Überlegenheitsgefühle, Rassismen, aber auch Bewunderung und Staunen durchziehen diese Berichte. Das macht sie zum ungetrübten Spiegel ihrer Zeit, jenseits unserer heutigen Sicht darauf.
Und wenn die Traveling English Ladies im 18. Jahrhundert mitten in der Wüste auf Five o'Clock Tea mit Spitzendecke bestanden, so ist das nicht nur Snobismus, sondern auch Haltung. Denn wer sich seiner eigenen Kultur, seines eigenen Standpunkts nicht vergewissert, wird auch mit der anderen Kultur nichts anfangen können.
Heute, in Zeiten um sich greifender interkultureller Kompetenz und politischer Correctness, lastet bereits auf der Wahrnehmung von Fremdheit ein Generalverdacht. Dabei achtet jener, der vor dem Fremden zurückschreckt oder sich zumindest darüber wundert, diese mehr als derjenige, der es abstreitet.
Mit der Forderung nach Verständigung als Allerweltsrezept werden Probleme zur Seite geschoben. Unterschiede und Eigenwilligkeiten, auch die Feindlichkeit gegenüber dem Fremden, werden verdrängt. Man will bestehende Projektionen und Vorurteile nicht wahrhaben. Sie werden ausgeblendet und so behandelt, als lösten sie sich allein bei gutem Zureden und mit scheinheiligen Verständnisparolen in Missverständnisse und Lernprozesse auf.
So entsteht gleichgültige Toleranz. Ein Tugendterror, der die Unterschiede, und damit das Staunen, die Anziehungskraft der Welt verneint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen