Koloniale Vergangenheit der Niederlande: Ringen um Entschuldigung
Die niederländische Regierung will sich für die Sklaverei entschuldigen. Doch um diesen überfälligen Schritt ist eine heftige Kontroverse entstanden.
Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft
Rutte ist nicht das einzige Kabinettsmitglied, das in dieser Mission unterwegs ist. Franc Weerwind, Minister für Rechtsschutz, wird in Paramaribo erwartet, der Hauptstadt der einstigen Kolonie Surinam, Sozialministerin Karien van Gennip auf der Antilleninsel Bonaire, Gesundheitsminister Ernst Kuipers auf Sint Maarten. Zudem reisen vier Staatssekretär*innen nach Aruba, Curaçao, Saba und Sint Eustatius.
Auf niederländischen Schiffen wurden etwa 550.000 versklavte Menschen aus Westafrika nach Amerika gebracht. Die ehemalige Kolonie Indonesien, wo die Niederlande ebenfalls Sklav*innenhandel betrieben, ist nicht Teil der Planung.
Hintergrund ist, dass im kommenden Jahr in großem Stil der Abschaffung der Sklaverei gedacht werden soll. Als eine der letzten europäischen Kolonialmächte beschlossen die Niederlande dies 1863. Effektiv frei aber wurden die vormaligen Sklav*innen erst im Jahr 1873 – vor 150 Jahren. Beginnen soll das Erinnerungsjahr am 1. Juli, dem Gedenktag Keti Koti (Zerbrochene Ketten). „Die Sklavereivergangenheit ist ein sehr schmerzhafter, wichtiger und bis vor Kurzem unterbelichteter Teil unserer Geschichte“, erklärt das Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft. Das Gedenkjahr soll „langfristig das Wissen und die Verbindung in der Gesellschaft vergrößern“.
Das goldene 17. Jahrhundert
Tatsächlich war die eigene Rolle in Kolonialismus und Sklaverei in den Niederlanden lange kein Thema. In dem verzerrten Bild einer vermeintlich progressiven Vorzeigegesellschaft, das zumal in Deutschland lange existierte, spielte dieser Aspekt nie eine Rolle. Dass man sich hierzulande ohne jeden Gedanken an Sklaverei und koloniale Ausbeutung auf das „goldene“ 17. Jahrhundert bezog, verblasste aus internationaler Perspektive hinter dem Klischee des multikulturellen liberalen Musterlands.
In den letzten Jahren kam jedoch Bewegung in die Sache. Die jährliche Keti-Koti-Gedenkfeier wird live im TV ausgestrahlt und nimmt deutlich mehr Raum im öffentlichen Diskurs ein. Die Frage nach einer Entschuldigung taucht in diesem Rahmen regelmäßig auf. Die vier größten Städte – Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht – gingen diesen Schritt in den letzten anderthalb Jahren.
Entscheidender Faktor war der Bericht „Ketten der Vergangenheit“, den eine Expertenkommission in Auftrag der Regierung 2021 präsentierte. Dieser empfiehlt unter anderem, dass die Niederlande sich für ihre Rolle während der Sklaverei entschuldigen sollten. Die konservativen Regierungsparteien VVD und CDA waren bis dato gegen diesen Schritt, die liberalen D66 sowie die sozialcalvinistische ChristenUnie dafür. Die für Montagnachmittag in Den Haag erwartete Rede von Premier Rutte gilt offiziell als Reaktion des Kabinetts auf diesen Report.
Für den 1. Juli
Seit Bekanntwerden der Pläne ist deutlich geworden, auf welch heiklem gesellschaftlichen Terrain der Diskurs stattfindet. Mehrere surinamische und antillische Organisationen kritisieren, sie seien bei der Planung nicht miteinbezogen worden, die Regierung habe überstürzt und monolateral ihre Agenda vorangetrieben, ohne sich um die Interessen von Nachkommen der Sklav*innen zu kümmern. Zudem halten sie den 1. Juli für den geeigneteren Tag. Auch das Nationale Sklaverei-Gedenkkomitee von Surinam fordert das.
Im Spätherbst fanden darum mehrere Treffen zwischen Verteter*innen dieser Organisationen mit der Regierung statt. Der Graben allerdings wurde nicht kleiner. Sechs Stiftungen, darunter „Eer en Herstel“, versuchten Anfang Dezember, per einstweiliger Verfügung einen Aufschub der Entschuldigungen zu erreichen. Vor einem vollen Gerichtssaal in Den Haag wurde die Klage verworfen – Begründung: Es handele sich um eine ethische Fragestellung und nicht um eine juristische. Die beteiligten Stiftungen wollen nun die Entschuldigungen nicht annehmen. Auch die Premierministerin von Sint Maarten, Silveria Jacobs, kündigte dies am Wochenende an.
In der niederländischen Gesellschaft nahm die Unterstützung für eine Entschuldigung in den letzten beiden Jahren zu. Laut dem Meinungsforschungsinstitut I&O waren Anfang 2021 31 Prozent der Befragten dafür und 55 Prozent dagegen. Im November 2022 waren es 38:49 Prozent. Der Unterschied wird durch einen Bewusstseinswandel der nichtmigrantischen Bevölkerung erklärt.
Genau auf diesen wiederum spielt Premier Rutte an, der am Fahrplan einer schnellen Entschuldigung festhalten will: Man habe nun eine gesellschaftliche „Tragfläche“ und müsse handeln, bevor diese wieder verschwinde. Damit zielt er auf die Agitation etwa der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid gegen die Entschuldigung an. In den sozialen Medien beschwören identitäre User zudem ein Szenario von Reparationsbezahlungen herauf, während die Bevölkerung unter Energiekosten und Inflation ächzt. Dass von Reparationen keine Rede ist, hat Rutte dagegen mehrfach deutlich gemacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich