Klimawandel und das aktuelle Hochwasser: Vom Himmel hoch, da kommt es her
Aufgeweichte Deiche, überflutete Straßen und wegschwimmende Autos sind die neue Normalität. Wie Dürre und Waldbrände. Warum begreift das niemand?
S eit ich vor 30 Jahren meine Familie um die Sektion Göttingen erweitert habe, frage ich mich: Was bedeutet eigentlich das „Nieder“ in Niedersachsen? Jetzt habe ich die Antwort: Niedersachsen ist das Sachsen, wo die Keller volllaufen und die Sandsäcke gefüllt werden, wenn es mal ein paar Tage am Stück regnet. Und nicht nur die Keller: Talsperren saufen ab, Flüsse erwachen und verlassen ihr Bett, Deiche durchweichen, Überflutungsgebiete machen ihrem Namen alle Ehre, die Feuerwehr wird zur Wasserwehr. Im Harz und im Auenland entlang von Leine, Weser und all der Flüsse, deren Namen man plötzlich kennenlernt, entstehen neue Feuchtgebiete und Pop-up-Moore.
Alles schlimm genug. Menschen müssen gerettet werden, die Schäden an Straßen, Brücken und auf Feldern sind groß. Aber erstaunlich ist, wie erstaunt die Menschen sind. Wie laut die Ursachen für diese Katastrophe verschwiegen und ignoriert werden. Und wie wenig wir alle realisieren, dass das keine Ausnahme mehr ist. Sondern Teil eines neuen Normalzustands. Wir nennen es Klimakrise.
Sicher, noch gibt es keine Modellrechnungen, um wieviel wahrscheinlicher die Erderhitzung die großflächigen und ergiebigen Regenfälle rund um Weihnachten in Norddeutschland gemacht hat. Aber klar ist: Sie passen genau ins Muster, sie entsprechen allen Vorhersagen und erfüllen mit schöner naturwissenschaftlicher Konsequenz, was Politik und Wirtschaft immer gern wegrechnen, ignorieren oder mit „technologieoffen“ Hoffnungen zukleistern.
Auf den Websites der niedersächsischen Regierung stehen all die Gutachten, in den Archiven der Medien finden sich die Berichte über die einschlägigen Reports – und in allen Klimaprojektionen zu Deutschland im Klimawandel steht es auch: Wärmere Atmosphäre bedeutet mehr Feuchtigkeit in der Luft, die Winter werden wärmer und nasser, mehr Extremwetter wie Starkregen und Dürre stehen ins Haus. Oder besser: Sie stehen schon kniehoch im Haus, nämlich im Keller.
Vornehme Zurückhaltung
Dann kommt es genau so wie seit Jahren vorhergesagt, und: Ministerpräsident Stephan Weil spricht von „Naturkatastrophe“. Tja, da kann man dann wohl nichts machen, oder? Und überall in den Medien sehe ich: lange Berichte über die Wassermassen, die Maßnahmen, die Hilfsbereitschaft.
Kaum etwas zu möglichen Ursachen. Vornehme publizistische Zurückhaltung, die wir sonst gar nicht kennen: Wenn an Silvester irgendwo in Neukölln eine Mülltonne brennt, wird großflächig über verfehlte Migrationspolitik debattiert; wenn die Börse mal schwächelt, wird schnell nicht mit Aktien, sondern Vermutungen spekuliert. Nichts tut das politische Berlin lieber, als faktenarm über Motivation und Entscheidungen von Regierung und Opposition zu schwadronieren. Aber ein faktenbasierter Hintergrund dazu, was und warum da jetzt so alles vom Himmel hoch runterkommt – und dass das keineswegs eine Naturkatastrophe ist? Eher nicht.
Denn das hieße ja: Anerkennen, dass wir bereits mitten in der Klimakrise leben. Dass es um Future geht, auch von Saturday bis Thursday. Oder dass eine Regierung in Stadt, Land, Fluss vielleicht sogar – verwegener Gedanke – den Klimanotstand nicht nur erklärt, sondern auch entschlossen bekämpfen müsste.
Wenigstens die Mützen stimmen
Für eine solche Zeitenwende wäre es aber eben nicht genug, im Sommer im Bundeskabinett eine Strategie zur Klimaanpassung zu verabschieden – sondern dieses Denken müsste sich überall breitmachen, nicht nur bei Öko-Steffi. Sondern auch bei Bau-Klara, Verkehrs-Volker und vor allem bei Finanz-Chrissie. Aber bis dahin wird noch viel Wasser die Leine herunter durch die Innenstädte fließen.
Vielleicht sind wir aber mal wieder viel weiter als diese Menschen an den Schleusentoren der Macht: Auf dem Weihnachtsmarkt in Göttingen jedenfalls laufen mir zwei Menschen mit grünen Mützen über den Weg. Drauf steht nicht wie sonst „Schietwetter“ – sondern „Schietklima“. Na bitte. Geht doch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour