Klimapolitik in Großbritannien: Anspruch auf die Führung

So geht gute Klimapolitik: Die britische Regierung revolutioniert „jede Facette des Lebens“. Ein Kritikpunkt bleibt trotzdem.

Die Atrappe eines typischen britischen roten Hauses sinkt in der Themse, im Hintergrund sieht man die Tower-Bridge

Das Haus ist diesmal noch eine Attrappe, aber Extremwetter gibt es auch in London schon Foto: Extinction Rebellion/Guy Reece

DUBLIN taz | Den Brexit haben die Briten bisher nicht hinbekommen. Aber beim weitaus wichtigeren Thema Klimawandel spielen sie eine führende Rolle in Europa. Im Mai hat das Londoner Unterhaus als erstes Parlament weltweit einen „Umwelt- und Klimanotstand“ ausgerufen. Dieser ist zwar rechtlich nicht bindend, aber Labour-Chef Jere­my Corbyn, der den Antrag eingebracht hatte, bezeichnete ihn als „riesigen Schritt nach vorn“.

Das Committee on Climate Change (CCC), der unabhängige Ausschuss zum Klimawandel, hatte empfohlen, das Klimagesetz von 2008 nachzubessern. Dieses legte fest, dass bis 2050 im Vergleich zu 1990 80 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen werden sollten. Das reiche nicht, um die Ziele des Pariser Klimavertrags zu erreichen, so das CCC. Deshalb soll der Netto­beitrag zur Erderwärmung nun bis 2050 auf null sinken.

Der Ausschuss schätzt die Kosten dafür auf 1 bis 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Genauso viel, wie bereits 2008 veranschlagt worden war. Das ist durchaus realistisch, wird doch Klimaschutz wegen der Fortschritte bei Klimatechnologie und sauberer Energieerzeugung immer billiger. Zudem könnten bis 2030 2 Millionen Jobs in diesen Bereichen geschaffen werden, hofft die Regierung.

„Dieses Papier wird unser Leben verändern“, sagte Professor David Reay von der Universität Edinburgh. „Wenn dieser akribische Expertenbericht beherzigt wird, kommt das einer Revolution jeder Facette unseres Lebens gleich.“

Ein Viertel des Stroms kommt noch aus Atomkraftwerken

So soll bis 2030 der Kohleausstieg vollzogen sein. Es wird massiv in erneuerbare Energien investiert, um deren Anteil zu vervierfachen. Häuser sollen gedämmt und vor allem mit Strom aus erneuerbaren Quellen beheizt werden. Ab 2030 sollen keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. Zudem will die Regierung Anreize schaffen, den Milch- und Fleischkonsum zu reduzieren. Auf 20 Prozent der Agrarflächen sollen 1,5 Milliarden Bäume gepflanzt werden, um CO2 zu binden.

Eine entscheidende Rolle bei der klimaneutralen Stromerzeugung spielt die Atomkraft. Derzeit erzeugen 15 Reaktoren rund ein Viertel des Stroms. Bis 2035 sollen sie ein Drittel liefern. Zehn Reaktoren haben ihre Laufzeit bereits überschritten, sie sollen zwar bis 2025 weiterlaufen – obwohl die laut einer EU-Richtlinie erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung mit grenzüberschreitender Einbindung der Bevölkerung nicht vorgenommen wurde. Es müssen also auch neue Atomkraftwerke her.

Bisher ist nur der Bau von Hinkley Point unter Dach und Fach. Tom Greatrex, Geschäftsführer der Nuclear Industry Association, dem Verband der britischen zivilen Atom­in­dus­trie, sagte, „saubere, verlässliche Kernkraft“ sei ein wichtiges Element auf dem Weg zur Klima­neu­tra­li­tät 2050. Im Brexit-Prozess hat die Regierung 2017 angekündigt, aus Eura­tom auszusteigen. Nun braucht die Atom­in­dus­trie neue Verträge, um den Nachschub an Brennstoff zu sichern.

Das CCC bewertet jedes Jahr die Fortschritte, die Großbritannien im Kampf gegen den Klimawandel macht. Von 2008 bis 2017 hat das Land sein Soll in der grünen Revolution erfüllt, und auch für die nächste Vierjahresperiode bis 2022 sieht es gut aus. 2018 lagen die Emissionen um 44 Prozent unter denen von 1990. Danach jedoch, von 2023 bis 2027, wird man größere Anstrengungen unternehmen müssen, um das Ziel zu erreichen, mahnt das CCC. Es sei aber zu schaffen.

Der Klimawandel: auch in Großbritannien bereits Gegenwart

Nicht alle sehen es so rosig. Bob Ward von Grantham Institute on Cli­mate Change sagt: „Unser Land muss mit gutem Beispiel vorangehen.“ Das Vereinigte Königreich soll den UN-Klimagipfel 2020 in Glasgow ausrichten. Ward sagt, man müsse dann noch mehr tun.

Extremwetterereignisse, wie sie die Klimaforscher gehäuft vorhersagen, sind längst in Großbritannien angekommen. Im Sommer brachten Überschwemmungen den Eisenverkehr in einigen Landesteilen zum Erliegen, in Derbyshire drohte der Regen, einen Damm wegzuspülen, so dass Bewohner evakuiert werden mussten. In vielen Städten wurden Rekordtemperaturen gemessen.

Und es werde noch schlimmer kommen, wenn man zu wenig unternehme, prophezeit die Organisation Friends of the Earth: Norfolk werde im Meer versinken, Somerset, Leeds und York werden überschwemmt, die Hochmoore im Nordwesten weiter abbrennen und die Bahngleise in Devon und Cornwall weggespült.

Julia King alias Baronin Brown of Cambridge vom CCC-Vorstand sagt: „Wir haben alle Möglichkeiten, aber wir nutzen sie nicht.“ So gebe es wenig Fortschritt beim Schutz von Ackerland und Wildtieren vor extremen Stürmen sowie bei der Bekämpfung der Gesundheitsprobleme älterer Menschen bei steigenden Temperaturen. „Dabei haben wir mit dem Meteorologischen Institut eine Einrichtung, die das Klima mit einer Genauigkeit von wenigen Kilometern vorhersagen kann“, sagt Brown. „Doch wir sind zu sehr durch den Brexit abgelenkt.“

Boris Johnson erwähnte Klimawandel nicht mal in Antrittsrede

Der Brexit ist aber irgendwann abgehakt. Danach kann das Königreich zur Tagesordnung zurückkehren. Die frühere Premierministerin Theresa May sagte: „Dieses Land war mit seinen Innovationen führend bei der industriellen Revolution, jetzt müssen wir auf dem Weg einer saubereren, grüneren Form des Wachstums vorangehen.“

Sie streiken: Die Temperaturen steigen. Der Meeresspiegel auch. „Fridays for Future“ ruft am 29.11. zum Klimastreik. Samstag protestiert „Ende Gelände“ gegen den Braunkohleabbau. Und am 2.12. beginnt die UN-Klimakonferenz.

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Ihr Nachfolger Boris Johnson hat seine Meinung zum Klimawandel im Lauf der Jahre allerdings mehrmals geändert. Als er 2011 Bürgermeister von London war, verlangte er eine „unternehmerische Initiative“, um die Emissionen in der englischen Hauptstadt zu senken und gleichzeitig die Stromversorgung zu sichern. Später schrieb er Artikel, in denen er den Klimawandel skeptisch beurteilte, und stimmte im Unterhaus gegen Investitionen in Technologien zur Lagerung von CO2 und für eine höhere Besteuerung von erneuerbarer Energie.

Als er Außenminister wurde, kritisierte er dagegen wieder US-Präsident Donald Trump für dessen Aufkündigung des Pariser Klimaabkommens. Aber das Thema steht sicher nicht oben auf seiner Agenda. Bei seiner Antrittsrede als Pre­mier­minister erwähnte er den Klimawandel kein einziges Mal.

Das übernehmen dafür seine Kollegen in der Regierung. Sie setzen darauf, dass andere Industrieländer mit ähnlichen Klimamaßnahmen nachziehen. Allerdings will man auch beobachten, was diese unternehmen, und das eigene Klimagesetz alle fünf Jahre darauf überprüfen, ob es für die britische Industrie keinen Nachteil darstellt.

50:50-Chance auf Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels bis 2100

Der Industrieverband glaubt jedoch, dass eine führende Rolle beim Klimaschutz die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft sogar stärkt. Viele britische Unternehmen unterstützen das Ziel der Emissionsneutralität deshalb.

Das CCC hat auch analysiert, was passieren wird, falls sich andere Länder tatsächlich ähnlich ambitionierte Ziele vornehmen und sie auch umsetzen. Ergebnis: Dann bestehe eine 50:50-Chance, die globale Erwärmung bis zum Jahr 2100 auf unter 1,5 Grad zu begrenzen.

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