Klimaforscherin über Umgang mit Hitze: „Mehr Hitzetote als Verkehrstote“
Trotz steigender Hitzetage, fehlt es an Aktionsplänen mit konkreten Vorgaben. Henny Grewe spricht über die medizinischen Folgen für Menschen.
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taz: Frau Grewe, „27 Wege, auf denen dich eine Hitzewelle umbringen kann“, lautete der Titel einer viel beachteten Studie 2017. Wie tötet denn Hitze?
Henny Annette Grewe: Kerntemperatur unseres Körpers ist 37 Grad, ab 40 Grad wird es lebensgefährlich. Wir Menschen sind Wärmemaschinen, selbst beim Schlafen produzieren wir Wärme. Um die Kerntemperatur stabil zu halten, müssen wir überschüssige Wärme abgeben, ab etwa 30 Grad Umgebungstemperatur geht das nur über Schwitzen. Gelingt das nicht, geraten wir unter Hitzestress. Und der führt zu mindestens 27 Schädigungsmustern, die schlimmstenfalls tödlich enden.
Zum Beispiel?
Das geht bei Wasserverlust los und hört bei Hitzschlag mit Organversagen auf. Natürlich sind chronisch Kranke, alte Menschen, Schwangere oder Kleinkinder besonders gefährdet. Menschen mit Demenz oder anderen psychischen Beeinträchtigungen reagieren oft nicht angemessen auf Hitze. Aber auch junge Menschen unterschätzen die Gefahr. Und nicht zu vergessen sind Faktoren wie schlechte Wohnverhältnisse, soziale Isolation und Armut. Hitze ist in Europa das größte Problem, das der Klimawandel bringt.
Wir haben vergangene Woche erst eine Hitzewelle mit um die 40 Grad in manchen Teilen Deutschland erlebt. Wie viele zusätzliche Tote hat es dieses Mal gegeben?
Das wissen wir nicht, und das ist ein großes Problem. Es gibt in Deutschland kein aktuelles Hitzemonitoring, die Aufbereitung von Sterbedaten dauert hierzulande Monate bis Jahre. Was wir aus den letzten Jahren aber wissen: Es gibt in Deutschland wesentlich mehr Hitzetote als Tote durch Verkehrsunfälle.
Im Verkehr wird viel investiert, um Mobilität sicherer zu machen. Bei der Hitze nicht. Woran liegt das?
Es fehlt das Problembewusstsein! 2003 war das Jahr der Sichtweitung, damals kamen in Mittel- und Westeuropa etwa 70.000 Menschen durch eine Hitzewelle um. Anders als andere Länder hat Deutschland aber keine Konsequenzen gezogen, mit Ausnahme von Hessen, das in der Folge ein Hitzewarnsystem entwickelt hat.
Aber es gab doch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation auf Deutschland übertragen hat.
Stimmt, das war 2017. Wir evaluieren gerade, was das gebracht hat. Es gibt mittlerweile in wenigen Kommunen Hitze-Notfallpläne, aber von unterschiedlicher Qualität. Die meisten sind auch noch nicht umgesetzt, müssen sich also erst in der Praxis noch bewähren. Und: Bislang ist Hitzeschutz keine Pflichtaufgabe für Kommunen.
Was wäre notwendig?
Verbindlichkeit! In Frankreich gibt es zum Beispiel einen nationalen Hitze-Aktionsplan, der Vorgaben für die Kommunen macht: Es gibt die Vorschrift, dass in jedem Alten-, jedem Pflegeheim mindestens ein gekühlter Raum vorhanden sein muss. Alte und chronisch kranke Menschen können sich registrieren lassen, damit sich während einer Hitzewelle um sie gekümmert wird. Medikamente werden für den Hitzefall angepasst, damit dem Körper zum Beispiel weniger Flüssigkeit entzogen wird. Der Staat evaluiert zudem, und zwar zeitnah, welche Krankheitslast eine Hitzewelle bringt und wie viele Tote es gibt. So hat der Krisenstab in Paris immer ein aktuelles Lagebild. Es reicht aber nicht, das Thema auf die Politik zu beschränken.
Sondern?
Die Gesundheitsversorger müssen handeln, die Krankenhäuser und Pflegeheime, das ärztliche und das Pflegepersonal. Denn diese sind es, die ihre Patientinnen und Patienten kennen. Politische Manifeste gibt es von ihnen seit Jahren, es mangelt aber an guter präventiver Praxis. Wir brauchen aber auch Bäume und Parks im Stadtraum, die kühlen, begrünte Fassaden oder Dächer. Wer bei der Stadtplanung heute jene Kaltluftschneisen, die kühle Luftmassen in Wohngebiete tragen, nicht mitdenkt, der muss später Gebäude wieder abreißen, um eine Kühlung der Stadt zu gewährleisten.
Stand der Wissenschaft ist, dass sich bis 2050 die Hitzewellen in Mitteleuropa verdreifachen werden. Gleichzeitig wollen wir jetzt wegen Gasknappheit stillgelegte Kohlekraftwerke ans Netz nehmen. Sind wir lebensmüde?
Unter Klimaschutzaspekten sind solche Entscheidungen jedenfalls fatal: Jedes laufende Kohlekraftwerk macht die Zukunft umso schlimmer.
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