Kinotipp der Woche: Wessen Peripherie?
Mit „Südostpassage“ zeigt das Kino Krokodil Ulrike Ottingers Dokumentafilm über die „Ränder“ Europas von 2002. Der gegenwärtige Bezug ist deutlich.
„Die bitterste Armut befindet sich dort, wo der Bus nicht mehr hinfährt.“ Anfang der 2000er Jahren macht sich die Filmemacherin Ulrike Ottinger auf zu einer Reise von Wrocław nach Istanbul. Ihr dreiteiliger Dokumentarfilm „Südostpassage“ trägt den Untertitel „Reise zu den neuen weissen Flecken auf der Landkarte Europas“. Aufmerksam beobachtet Ottinger den Alltag der Menschen entlang ihrer Reiseroute. Schon in den ersten Dörfern und Städten der Slowakei zeugen die Gebäude davon, dass die goldene Zeit der Region lange zurückliegt. Zwei Roma-Siedlungen zeigen das Leben im Niemandsland. Erst als der Film in Košice ankommt, erscheinen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr ganz so gegensätzlich.
Im heute rumänischen Toplet wackeln Trut- und sonstige Hühner über Wiesen. Eine alte Frau geht auf einen Stock gestützt hinterher. Die alte Frau zeigt eine Spitzendecke, an der sie klöppelt, zwei Enten baden unterdessen im Wasser an einer Mühle. Kurz beäugen sie die Kamera skeptisch, planschen dann aber weiter. Ottinger ergänzt und kommentiert die Bilder der Reise durch sparsam eingesetzte Literaturzitate. Von Donnerstag an zeigt das Kino Krokodil alle drei Teile von Ottingers Dokumentarfilm. Jeweils einen Teil unter der Woche abends und am Sonntag alle drei Teile in Folge.
„Überall spricht man von Europa. Allerdings wird dabei Ost-, Mittel- und Südosteuropa völlig vergessen. […] Das ist ein neues Phänomen. Niemand reist dorthin, und deshalb weiß auch niemand, wie es in der Ukraine oder in Rumänien oder Bulgarien ist. […] Ich bin auf den Straßen des alten Europa gereist, die Berlin mit Breslau verbanden, Breslau mit Chernowitz, Varna mit Odessa und Odessa mit Istanbul“, erläuterte Ottinger nach der Premiere des Films im Sommer 2002 auf der documenta 11 in einem Interview.
Kino Krokodil: Retrospektive „Südostpassage“ von Ulrike Ottinger, 25.–31. August, alle drei Teile am 28. August
Der erste Teil führt vom polnischen Wrocław nach Varna in Bulgarien, von einem Regentag, vor dem sich Passanten in Chocolaterien retten, zu einem Monumentaldenkmal für die bulgarisch-sowjetische Freundschaft an den Ufern des schwarzen Meeres.
Der zweite Teil beginnt mit einer Fährfahrt von Varna nach Odessa. Etwas zerzaust wehen die Fahnen der Ukraine und Bulgariens am Mast der Fähre. Die Lautsprecheranlage ruft zum Abendtee. Eine Einblendung erklärt, dass die Fähren nicht mehr wie früher im 8-Stunden-Takt verkehren sondern nur noch alle ein bis zwei Wochen. In den folgenden gut zwei Stunden entfaltet Ottinger ein vielschichtiges Porträt Odessas. Teil drei widmet sich in ähnlicher Form Istanbul, den Schlusspunkt der Reise.
Intervention in die Gegenwart
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Durch die wiederholten Angriffskriege Russlands gegen die Ukraine 2014 und 2022 ist zumindest ein Teil Osteuropas in den Fokus auch der deutschen Aufmerksamkeit gerückt. Dennoch gilt Ottingers Befund von vor 20 Jahren, dass große Teile Ost-, Mittel- und Südeuropas vergessen werden, weiterhin.
Indem das Krokodil die drei Teile der „Südostpassage“ erneut präsentiert, wird in anschaulicher und teilweise ergreifender Form die Komplexität der Geschichte eines geographischen Raums sichtbar, der nur von Westeuropa, von Deutschland aus vielen als Peripherie erscheint. Ottingers Film gibt Raum für Vergangenheit und Gegenwart der vielfach bis heute umkämpften Orte, die sie durchreist und setzt Akzente zum Leben von Roma und Romnja, Juden und Jüdinnen. Die Wiedervorführung von „Südostpassage“ ist kluge Intervention in die Gegenwart und filmisches Vergnügen gleichermaßen.
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