Kinotipp der Woche: Keine Angst vor dem Alltag
Gisela Tuchtenhagen dokumentiert in ihren Filmen Arbeitsmigration, Frauen in Männerberufen oder einfach nur Bingo. Zeit für eine Werkschau.
„Maria ist Spanierin, 13 Jahre alt, hat zwei Brüder und eine Schwester. Maria ist seit vier Jahren hier, geht zur Mittelschule, siebte Klasse.“ Mit deutlichem norddeutschen Sprachschlag stellt Regisseurin Gisela Tuchtenhagen die Protagonistin ihres kurzen Dokumentarfilms „Was ich von Maria weiß“ vor. Ihr Film ist eine Pionierarbeit in der Darstellung der Kinder von Arbeitsmigrant_innen, entstanden als Abschlussfilm zu ihrem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
Skizzenhaft entfaltet Tuchtenhagen die Lebensumstände von Marias Familie, konzentriert sich dann aber auf das Leben von Maria: das Kümmern um die Geschwister, die nicht enden wollende Hausarbeit. Tuchtenhagen verdichtet das Leben auch visuell, indem sie Standfotos in den Film montiert. „Was ich von Maria weiß“ läuft am nächsten Mittwoch zur Eröffnung einer Werkschau mit Filmen Tuchtenhagens im Berliner Zeughauskino.
Als Tuchtenhagen 1969 an die dffb kommt, ist sie ausgebildete Fotografin und beginnt schnell als Kamerafrau zu arbeiten, eine der wenigen der Zeit. Noch während des Studiums beginnt sie mit Klaus Wildenhahn zusammenzuarbeiten, damals Dozent an der dffb. Gemeinsam entsteht eine dreiteilige Spurensuche zum „Hamburger Aufstand Oktober 1923“ für den NDR.
Tuchtenhagen macht die Kamera zu feministischen Filmen der Zeit wie Cristina Perinciolis „Für Frauen – 1. Kapitel“ und Helke Sanders „Macht die Pille frei?“. Ihre ersten eigenen Filme Anfang/Mitte der 1970er Jahre wirken unscheinbar, kreisen inmitten einer aufgeregten Zeit um „2 Pastoren und ein Vikar in Hamburg-Harburg“ und das Landleben in Norddeutschland.
In dieser Zeit entsteht auch der zweite Film des Eröffnungsprogramms: „5 Bemerkungen zum Dokumentarfilm“. Der Film beginnt mit den Arbeiten Wildenhahns für die Musikredaktion des NDR, arbeitet den Stand des deutschen Dokumentarfilms, seine Stellung im und Abhängigkeit vom deutschen Fernsehen heraus, führt Gespräche zu Techniken des Dokumentarischen, mit Redakteur_innen und erprobt Thesen zum Dokumentarfilm. „5 Bemerkungen“ ist Orientierungshilfe und Selbstverortung zugleich.
Konzentriert auf das Leben
Ende der 1970er Jahre folgt „Sing, Iris – sing“ ein Film über eine Gruppe arbeitsloser Frauen, die umschulen – auf „Männerberufe“. Mit großer Empathie zeigen Gisela Tuchtenhagen und Koregisseurin Monika Held den Alltag im Essener Berufsförderzentrum und öffnen den Film für Einblicke in die Lebensrealitäten der Frauen.
Mitte der 1980er Jahre entsteht Tuchtenhagens umfangreichstes Filmprojekt „Heimkinder“ über Jugendliche in einem Pilotprojekt eines Hamburger Jugendheims. Gemeinsam mit Sozialarbeitern gehen die Jugendlichen auf Reise. „Heimkinder“ begleitet diese Reise in fünf Teilen.
Die Filme Gisela Tuchtenhagens sind zutiefst empathisch und den Menschen zugewandt. Feministische Themen ziehen sich ebenso durch ihr Werk wie ein wiederkehrendes Interesse für die Lebensumstände, die Migration für Frauen mit sich bringt. Zugleich hat Tuchtenhagen keinerlei Berührungsängste mit der Trivialität des Alltags. Quinka Stoehrs Porträtfilm „Zuneigung“ zeigt Tuchtenhagen unter anderem beim Drehen auf einem Feuerwehrball, einer ihrer letzten Filme widmet sich dem Bingo als Ausflugsziel einer Gruppe von Frauen auf dem norddeutschen Land. Tuchtenhagens Werk verdient eine Wiederentdeckung, die Werkschau im Zeughauskino ist die Gelegenheit dazu.
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