Kinotipp der Woche: Das Eigenleben der Filme
Der Kurator Tobias Hering hat aus den Archiven des Arsenals und der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen eine spannende Reihe zusammengestellt.
Sechs Laufstreifen sind in nahezu regelmäßigen Abständen über die Filmbilder verteilt. Manche kommen und gehen, nehmen an Intensität zu und ab. Einige der Laufstreifen werden von dünneren Streifchen umspielt, alle sind am oberen und unteren Bildrand ausgeprägter als in der Mitte des Bildes. Filmkopien führen ein Eigenleben, das sich nur temporär mit dem der Filme, die auf ihnen kopiert wurden, überschneidet.
Die Materialschäden, die sich in Filmkopien im Laufe der Zeit eingraben, sind sichtbare Zeichen dieses Eigenlebens. Tobias Hering arbeitet seit einigen Jahren mit den Archiven des Arsenals und der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen.
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Aktuell ist eine kleine Auswahl von Filmen, auf die er bei seinen Streifzügen durch die Archive gestoßen ist, im Streamingangebot des Arsenals zu sehen. Die Auswahl trägt den Titel „Odd Ones Out – Filme aus dem Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist“.
Die oben beschriebenen Laufstreifen liegen über Szenen eines ägyptischen Dorfes. Bauern führen ihre Kühe durchs Dorf, Frauen reinigen am Dorfbrunnen Gemüse und waschen Wäsche. Dazu beschwört eine Kommentarstimme die Unveränderbarkeit ägyptischer Dörfer, die oberflächlich jenen von vor hunderten von Jahren ähneln. Doch „unter der Oberfläche findet eine gefährliche Veränderung des Dorflebens statt“. Die gefährliche Veränderung: Bildung.
Odd Ones Out – Filme aus dem Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist: Streamingangebot: 11 € / Monat, www.arsenal-berlin.de, Online-Diskussion mit Tobias Hering am 18. 3., 18 Uhr auf dem Arsenal-Youtube-Kanal
Mit dicken Pinselstrichen
Daoud Abdel Sayeds „Ratschläge eines alten, weisen Mannes zu Fragen des Dorfes und der Bildung“ von 1976 zeigen die Fortschritte in der Bildung der Landbevölkerung Ägyptens. Kinder, mehr Jungen als Mädchen, die über Feldwege der Schule entgegen eilen. Ein Bauer erzählt, dass ein Teil seiner Kinder mit ihm arbeiten muss, damit wenigstens einige seiner Kinder zur Schule gehen können. Ibrahim soll Arzt werden, Alaa Ingenieur.
Doch zu diesen Bildern wütet die Kommentarstimme gegen die Neuerungen. In dicken Pinselstrichen wird das Bild der Schule durchgestrichen. Der Film kam durch eine ost-westdeutsche Zusammenarbeit auf die Kurzfilmtage und damit ins Archiv.
Im Februar 1978 empfahl Ronald Trisch, Leiter der Leipziger Dokumentarfilmwoche, den Oberhausener Kolleg*innen Sayeds Film. Der Film lief 1978 auf den Kurzfilmtagen, bevor das Festival die Kopie zurückschickte, wurde eine 16mm-Kopie gezogen, die im Archiv verblieb und heute die einzig bekannte Kopie ist.
Materielles Zeugnis
Während bei Sayeds Film vor allem die Laufstreifen materielles Zeugnis der Lebensgeschichte der Filmkopie sind, ist es bei „Sueur“ (Schweiß) der Ton. Die Tonspur des Film wabert leicht, wird dumpfer und klarer, lauter und leiser.
„Sueur“ ist der erste Film des tunesischen Amateurfilmers Amor Nagazi. Präzise folgt der auf 8mm gedrehte Film der Arbeit in einer Ziegelbrennerei vom Mischen des Lehms bis zu den fertigen Ziegeln. Eine Ode an die Arbeit ohne pathetische Überhöhungen.
Die Auswahl von Archivfunden, die Tobias Hering für das Streamingangebot des Arsenals zusammengestellt hat, lädt dazu ein, mit und an den Filmen weiterzuarbeiten. Die Reihe ist also auch als Erinnerung zu verstehen, dass Nicht-wissen in der Filmgeschichte jenseits der Kanonisierung noch immer der Regelfall ist und detaillierte Kenntnis der Produktionsumstände der Ausnahmefall.
Wessen Interesse nun geweckt ist, der_die sei auch auf die Online-Diskussion mit Tobias Hering hingewiesen, die am 18. März stattfindet und auf dem Youtube-Kanal des Arsenals übertragen wird.
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