Kinotipp der Woche: Die Trivialität des Gezeigten

Das Balázs Béla Stúdió war ein Freiraum im Sozialistischen Ungarn. Das Collegium Hungaricum Berlin widmet ihm eine vierteilige Filmreihe.

Szene aus „Wir können uns immer drauf verlassen, dass Du eine lange Strecke läufst“ (1968)

„Wir können uns immer drauf verlassen, dass Du eine lange Strecke läufst“ (1968)

Was wünscht man sich mehr auf einem Langstreckenlauf als einen Funktionär im Anzug, der einem eine Rede hält. „Es ist schwer, in einfachen Worten auszudrücken, dass ich Dich vom Grunde meines Herzens willkommen heißen will!“, sagt der Mann im Anzug. Der Langstreckenläufer hoppelt vor ihm auf und ab.

Der Mann im Anzug geht zu ideologischen Büttenreimen über. Der Langstreckenläufer läuft schließlich weiter, er ist auf dem Weg von Budapest in das Dorf Kenderes. Als er im Dorf ankommt, erwarten ihn mehr Männer in Anzügen. Gyula Gazdag drehte „Hosszú futásodra mindig számíthatunk“ („Wir können uns immer drauf verlassen, dass Du eine lange Strecke läufst“) 1968 mit gerade einmal 21 Jahren am Balázs Béla Stúdió.

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Der Film lebt von der Trivialität des Gezeigten. Ein Langstrecken laufender Taxifahrer, der sich während und nach dem Laufen in Plattitüden ergeht, wird in der Wiederholung seiner Langstreckenläufe von Funktionären in Anzügen zum Nationalhelden des sozialistischen Ungarns verklärt.

Von nächstem Freitag an, widmet das Collegium Hungaricum Berlin (CHB) dem Studio unter dem Titel „Staatssozialistisch gesicherter Freiraum für Filmkunst“ eine vierteilige Filmreihe. Gazdags Film ist Teil des Kurzfilmprogramms, das zur Eröffnung läuft.

Das Studio wurde genau genommen gleich zwei Mal gegründet: 1959 und 1960/1. Der erste Anlauf führte zu einem Filmklub, der vor allem Filmanalysen von Filmen der französischen Nouvelle Vague vornahm. Das eigentliche Ziel, Absolventen der Filmakademie die Gelegenheit zu bieten, erste Filme zu drehen, bot sich ihnen letztlich aber doch bei der staatlichen Filmproduktion Mafilm.

Selbst verwaltet

Der zweite Anlauf führte zu einem Filmstudio mit großen Freiräumen. Das Studio bekam jährlich das Budget für einen abendfüllenden Film und wurde von den Mitgliedern selbst verwaltet. Mitglied werden konnte jeder Absolvent der Filmakademie. Die Mitglieder wählten dann alle drei Jahre die Studioleitung und diskutierten die Projekte untereinander.

Den Auftakt des Kurzfilmprogramms macht Sándor Sáras „Vízkereszt“ („Was ihr wollt“). Winterbilder zu dezidiert neutöniger Musik, bald dringen auch Tierlaute, Schweinegrunzen in die Tonspur. Die Werbung einer Theatergruppe für die Aufführung von Shakespeares „Was ihr wollt“ ist für Sára Ausgangspunkt einer Momentaufnahme winterlichen Landlebens.

Später wurde Sára vor allem als Kameramann bekannt. Das gilt auch für Elemér Ragályi, dessen „Szilveszter“ („Silvester“) Aufnahmen der Neujahrsnacht montiert: ein glamouröser Ball, eine Fernsehshow, Straßenszenen. Zu Beginn unterlegt Ragályi diesen Szenen Zarah Leanders Ungarnphantasielied „Und dann tanz ich einen Czardas“, später beeinflusst er die Bilder vor allem durch die Veränderung der Laufgeschwindigkeit der Bilder.

Herzstück des Programms ist Pál Schiffers halblanger Dokumentarfilm „Fekete vonat“ („Schwarzer Zug“). Schiffers Film ist ein Gruppenporträt, er zeigt Arbeiterinnen*, die am Wochenende in einem Sonderzug in ihre Heimatorte pendeln.

Armut, Diskriminierungen, Alkoholismus

In den Gesprächen formt sich ein Gesellschaftsbild heraus. Armut, Diskriminierungen, Alkoholismus, das Lohngefälle zwischen der Bezahlung durch die Landwirtschaftsbetriebe und der Industrie der Städte, die Familien, die unter dem Pendeln leiden. Anders als die meisten seiner Kollegen hatte Schiffer schon einige Jahre Erfahrungen mit dem Dokumentarfilm, als er Mitglied des Balázs Béla Stúdió wurde.

„Schwarzer Zug“ steht in seiner soziologischen Ausrichtung für eine Neuausrichtung des Studios Ende der 1960er Jahre. Zugleich ähnelt der Film in seiner Tonlage einer Reihe von neuen Wellen der 1950er Jahre. Dem britischen Free Cinema oder der polnischen schwarzen Serie, die so hieß, weil sie gegenüber den rosigen offiziellen Bilder düsterere Themen aufgriff.

Das Kurzfilmprogramm macht die verschiedenen Tonlagen der Produktionen des Balázs Béla Stúdió sichtbar. Den trockenen Humor von „Wir können uns drauf verlassen…“, die lyrische Konstruktion von „Was ihr wollt“, die formale Freiheit von „Silvester“ und das soziologische Gespür von „Schwarzer Zug“. Bis Juli wird die Reihe monatlich fortgesetzt.

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