Kinofilm „Der See der wilden Gänse“: Panorama der Kleinkriminalität
Film Noir trifft Martial Arts: In dem neuen Film von Diao Yinan „Der See der wilden Gänse“ bekämpfen sich Motorraddiebe und die Polizei.
Ein Mann wartet an einem Vorortbahnhof von Wuhan im Regen, eine Frau tritt hinzu, fragt nach Feuer, ein kurzes Gespräch. „Vor zwei Nächten ging ich ins Xingqingdu Hotel …“
Die Handlung von Diao Yinans „Der See der wilden Gänse“ entwickelt sich im Wechsel zwischen der Gegenwart und Rückblenden in die Vergangenheit, die die Erzählung allmählich aufholen lassen, bis sie in der Gegenwart des Films angelangt ist. Der Mann, Zhou Zenong, ist Teil eines Netzwerks organisierter Kriminalität, das Motorräder klaut. Die Frau, Liu Aiai, ist eine Prostituierte, die Zhou Zenong helfen soll.
Die Geschichte beginnt zwei Nächte zuvor in besagtem Hotel, in dem eine Fortbildung zum effizienteren Motorraddiebstahl stattfindet. Als am Ende des Treffens die Straßenzüge unter den Anwesenden aufgeteilt werden, kommt es zum Streit um eine besonders lukrative Straße.
Um den Streit zu schlichten, ruft der Anführer der Organisation einen Wettstreit zwischen den beiden Fraktionen aus. Wer am meisten Motorräder innerhalb zweier Stunden stiehlt, gewinnt. Doch stattdessen wird Zhou Zenong von seinen Konkurrenten angeschossen. Er nimmt die Verfolgung auf, schießt auf zwei Männer, die er für seine Angreifer hält, und tötet stattdessen unwissentlich zwei Polizisten.
„Der See der wilden Gänse“. Regie: Diao Yinan. Mit Hu Ge, Gwei Lun Mei u. a. China/Frankreich 2019, 113 Min.
Das erste Bild, das von dem Film im Kopf des Regisseurs existierte, war die Eröffnungsszene des Treffens im Regen und die Faszination für den Film Noir des Hollywoodkinos der 1950er Jahre. Diao Yinans Inszenierung von „Der See der wilden Gänse“ greift denn auch visuelle Elemente des Noir auf: zahlreiche Nachtszenen, grelle Licht-Schatten-Kontraste, Neonlichter in der Großstadtnacht, künstliches Gewitterblitzen in dramatischen Situationen.
Geschickt nutzt Yinan, wie sich Stadt und Seenlandschaft in Wuhan durchdringen. In den Naturaufnahmen, die teils in die Handlung eingeflochten sind, und einigen Kämpfen klingt das wuxia, der chinesische Martial-Arts-Film, als zweite filmische Tradition an.
Machtkampf unter der Oberfläche
Nach den tödlichen Schüssen auf die Polizisten versteckt sich Zhou Zenong am See der wilden Gänse im Stadtgebiet. Gemeinsam mit Liu Aiai zieht er durch die Stadt und versucht, unauffällig zu bleiben. Die Polizei beginnt mit einem Großeinsatz, mit dem sie Zhou und seine Komplizen fassen will. Einer nach dem anderen werden Zhous Vertraute erschossen. Für die Suche wird das Gebiet um den See unter den Polizisten aufgeteilt.
Die Verbrecherorganisation plant unterdessen, Zhou mit dessen Einverständnis selbst an die Polizei auszuliefern, um die Belohnung einzustreichen. Dazu geht Liu Aiai auf die Suche nach Zhous Frau. Aufseiten des Verbrechens entbrennt zudem unter der Oberfläche ein Machtkampf, bei dem Zhous Kontrahenten nun die Anführer der Gruppe herausfordern.
Diao verzichtet in seinem Film weitgehend auf Spannung und setzt stattdessen auf eine sehr allmähliche Entwicklung der Figuren und auf filmische Lehrstunden über die Hintergründe der Handlung. So etwa, wenn der Film nach den Schüssen auf die Polizisten die Lagebesprechung der Polizei zu einer Montagesequenz nutzt, die die Suchaktion der Polizei unter den „üblichen Verdächtigen“, auf Baustellen und in leerstehenden Häusern, an Bahnhöfen und am Strand zeigt und ein Panorama der Kleinkriminalität entfaltet.
Später verliert sich diese recht pädagogische Tendenz, die wirkt, als hätte sie die französische Koproduktion eingefordert, um den Film im Ausland besser verständlich zu machen, erfreulicherweise wieder. Und auch wenn sich weiterhin keine Spannung einstellt, trägt die Entwicklung der Figuren den Film.
Auf den europäischen Markt geschielt
Die Kreise der Polizei um Zhou werden enger und die Zeit, um sich selbst zu stellen, läuft ab. Als Liu Aiai Zhous Frau endlich gefunden hat, stellt sich heraus, dass sie von der Polizei zur Kooperation gezwungen wurde und dass der Plan, dass sie Zhou an die Polizei ausliefert und die Belohnung kassiert, nicht umzusetzen sein wird.
Ähnlich wie bei die europäischen Koproduktionen Wong Kar-Wais in den 2000er Jahren ist auch „Der See der wilden Gänse“ nicht frei von ästhetischen Manierismen, die während des Films unablässig „Arthouse!“ schreien. Diao zielt in seinem Film trotz der Genreanleihen beim Film Noir und dem Martial-Arts-Film unablässig darauf, unter Beweis zu stellen, dass er einen hochwertigen Film für Anhänger_innen des Autorenfilms gedreht hat. Die Farbpalette des Films wirkt auch in Szenen, in denen das keinen Mehrwert hat, gekünstelt und die Bildgestaltung hat erkennbar Spaß gehabt am Leuchten von Farben im Zwielicht.
Dafür bewegt sich die Kamera stellenweise, als wäre sie von einem 3-D-Modell gesteuert worden und nicht von einem Kameramenschen. Die Tonspur montiert über weite Strecken ziellos vor sich hin und scheint jeweils tönen zu lassen, was gerade in den Sinn kam. Man mag es da fast schon als Ehrlichkeit rühmen, dass dieses Prinzip im Film offengelegt wird, wenn Zhou in einem Versteck auf Zeitungsausschnitte zielt und jeweils ein passendes Geräusch zum Foto erklingt.
Chinesische Filmgeschichte wurde lange nach Abgangskohorten der Filmakademie in Peking eingeteilt. Diao Yinan (geboren 1969) gehört dem Alter nach in die berühmte sechste Generation, der so viele der Regisseure zugehören, die den chinesischen Film bis heute prägen. Jedoch: Diao war nie auf der Filmakademie in Peking, sondern besuchte stattdessen die Schwesterschule, die zentrale Akademie für Drama.
Nach dem Abschluss 1992 arbeitete er bis Anfang der 2000er Jahre als Drehbuchautor, bevor er 2003 mit „Uniform“ sein Regiedebüt realisierte, das auf diversen internationalen Festivals lief. 2014 gewann er mit „Black Coal, Thin Ice“ den Goldenen Bären der Berlinale. „Der See der wilden Gänse“ feierte 2019 auf dem Filmfestival in Cannes seine Premiere.
Vergleich der Tanzszenen
Diaos Film liegt mit seiner Mischung aus Genreanleihen und Autorenfilm durchaus im Trend des chinesischen Kinos. Anders als Jia Zhang-ke in „Asche ist reines Weiß“ oder Lou Ye in „The Shadow Play“ nutzt Diao diese Mischung jedoch nicht, um Gesellschaftsbilder zu entwerfen.
Das ist unübersehbar in zwei Szenen aus „Der See der wilden Gänse“ und „Asche ist reines Weiß“. In Jia Zhang-kes Film tanzt die Minenarbeiter-Kleinstadt abends im Tanzklub zu „Y.M.C.A.“ von den Village People und der Film fasst damit eine bestimmte Form von Provinzialität zu einer bestimmten Zeit; Diao zeigt in einer der Nächte von Zhous Flucht einen Club, in dem Menschen zu Europop wie „Dschinghis Khan“ und Boney M.s „Rasputin“ tanzen.
Die Tanzszene ist vor allem für den Effekt da, Leuchtsohlen in der Dunkelheit zu zeigen und später – die Szene entpuppt sich als Polizeiaktion – Polizisten mit einheitlicher blauer Neonsohle. Die Szene in Jia Zhang-kes Film transportiert also soziale Einordnung, während Diao vor allem auf – zugegebenerweise hübsch anzusehende – Schauwerte aus ist.
Es ist keine kleine Leistung der Protagonist_innen, das filigrane Ränkespiel der Figuren in „Der See der wilden Gänse“ inmitten all der blitzenden Bildwelten sichtbar zu halten. Vor allem Hu Ge als Zhou Zenong und Gwei Lun Mei als Liu Aiai halten den Film zusammen. Um sie herum hat Diao eine Reihe von Laiendarstellern angeordnet. Das Ergebnis gibt ihm an dieser Stelle recht: Die schauspielerische Ensembleleistung in „Der See der wilden Gänse“ ist beeindruckend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“