Kinderbuchautorin über Frauen im Iran: „Es gibt viele Jinas, die ihren Namen nicht tragen dürfen“
Zilan Sarah Kößler hat ein Kinderbuch über die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ in Iran geschrieben. Es thematisiert auch den Mord an Jina Mahsa Amini.

taz: Zilan Sarah Kößler, Sie haben das Kinderbuch „Jina. Das Mädchen, das Leben heißt“ geschrieben. Darin geht es um die junge Kurdin Jina Mahsa Amini, die 2022 in Iran verhaftet und ermordet wurde, und um die „Jin, Jiyan, Azadi“-Bewegung – eine internationale, feministische Protestbewegung in Solidarität mit den Frauen in Iran. Was ist Ihr Bezug zu dem Thema?
Zilan S. Kößler: Ich habe mich sofort in der Geschichte von Jina wiedergesehen. Ich komme selbst aus einem kurdischen Background und musste als Kind aus Kurdistan fliehen. Wie sie durfte ich damals meinen echten – meinen kurdischen – Namen nicht benutzen und kein Kurdisch in der Öffentlichkeit sprechen. Wie sie musste ich mich ständig verstecken. Klar ist die Situation von Kurd_innen in Iran eine andere, aber ich denke, meine Geschichte gibt mir ein emotionales und persönliches Verständnis der Lebensrealität von Jina.
taz: Was macht diese kurdische Perspektive aus?
Kößler: Jina kam aus einer kurdischen Familie, also ist es die einzige Perspektive, aus der wir die Geschichte verstehen können. Trotzdem wurde in den Medien oft von Mahsa Amini, der Iranerin, gesprochen, dabei ignoriert diese Art von Berichterstattung die Lebensrealität von Kurdinnen. In Iran, Syrien, Irak und der Türkei gibt es Tausende Jinas, die ihren Namen nicht tragen und ihre Kultur nicht leben dürfen.
ist Autorin und psychologische Beraterin. Sie hat Soziale Arbeit studiert und lässt sich aktuell zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ausbilden. Kößler lebt in Berlin.
Claudia Frickemeier und Sofia Burchardi haben den Kinderbuchverlag Blue Boat Books gegründet.
Sie werden nicht nur als Frauen unterdrückt, sondern auch weil sie kurdisch sind. Seit dem Mord an Jina ist das internationale Interesse an der Situation der Frauen in Iran gewachsen. Aber wenn sich dabei nur auf iranischen Feminismus bezogen wird und die Unterdrückung von Minderheiten nicht mitgedacht wird, ist das nur die halbe Geschichte.
taz: All diese Themen verpacken Sie in ein Kinderbuch für 6- bis 11-Jährige. Was für ein Verständnis können Kinder in diesem Alter überhaupt davon haben?
Kößler: Kinder sind oft viel reifer und vorbereiteter, als wir ihnen zutrauen. In meiner Arbeit als Kinder- und Jugendpsychologin bringen sie zum Beispiel Themen und Fragen auf, die ich nicht erwartet hatte, und sie schaffen es, total offen und unbefangen darüber zu sprechen.
Sie verstehen Geschichten von Ungerechtigkeit und Freiheit und können diese auf ihre eigene Lebensrealität beziehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass politische Themen Kinder genauso betreffen. Selbst Kinder, die keinen Bezug zu der kurdischen oder iranischen Diaspora in Deutschland haben, haben Berührungspunkte zu den Themen Unterdrückung und Freiheit. Darum geht es schlussendlich in „Jina“.
taz: Wie können wir mit Kindern über Gewalt und Unterdrückung sprechen, sie aber auch vor der Brutalität der Geschichte schützen?
Claudia Frickemeier: Ich glaube, wir können Kinder nicht wirklich davor schützen. Durch Handys und soziale Medien werden sie sowieso mit diesen Bildern konfrontiert, und da achtet auch niemand darauf, ob sie damit umgehen können oder nicht. Kinderbücher, die sich mit politischen Themen auseinandersetzen, sind ein Weg, diese Themen stattdessen gezielt kindgerecht und sensibel zu vermitteln. In „Jina“ zum Beispiel benutzen wir bildliche Metaphern, um zu erzählen, was Jina passiert ist, ohne die Brutalität dessen darzustellen.
Zilan Sarah Kößler: „Jina. Das Mädchen, das Leben heißt“. Illustriert von Clara Gilod. Blue Boat Books, Berlin 2025, 42 Seiten, 24 Euro
taz: Was können Kinder denn von Jinas Geschichte lernen?
Kößler: Durch das Buch lernen Kinder etwas über Freiheit, Mut und Selbstbestimmung, über die feministische Bewegung – nicht nur in Iran, in der kurdischen Community, sondern auch darüber, welche Bedeutung sie weltweit hat. Kindern, die in Deutschland aufgewachsen sind und wenig Bezug zu anderen Perspektiven haben, kann das Buch auch Einblick in andere Lebensrealitäten geben.
Sofia Burchardi: Das Buch regt an, Gespräche zu eröffnen, die nicht auf der politischen Ebene ansetzen, sondern auf einer persönlichen und zugänglichen Ebene. Die Kinder lernen, wer Jina war. Zum Beispiel, dass sie das Tanzen, Singen und den Wind in ihren Haaren liebte. Dadurch sollen Kinder lernen, wie Jinas Geschichte und Themen wie Freiheit und Unterdrückung auch für sie und in ihrem Alltag Bedeutung haben. Wenn Jina Nein sagt und sich für ihre Freiheit und Werte einsetzt, ermutigt das die Kinder auch für sich selbst einzustehen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass kurdische Mädchen sich in Medien repräsentiert sehen. Davon gibt es noch zu wenig.
taz: Können auch Erwachsene etwas von Kinderbüchern lernen?
Kößler: Bereits die Neugierde und die Offenheit von Kindern gegenüber diesen Themen ist etwas, das wir uns abschauen sollten. Oft sind politische Gespräche sehr festgefahren, und Leute trauen sich nicht zu sagen, was sie denken, oder schaffen es nicht, sich in andere hineinzuversetzen. Die Kategorien, die unser Leben bestimmen – wie Nationalität oder Geschlecht – sind in Kinderköpfen oft noch nicht vorhanden oder haben keinen Wert. Befreiter von Kategorien zu denken, würde uns guttun. Ein bisschen mehr kindliche Fantasie und Träumerei auch.
Frickemeier: Und das Nachfragen. Kinder fragen nach dem Grund für Dinge und geben sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden. Deswegen lasst uns ganz unten anfangen, bei den Wörtern Freiheit und Respekt. Bevor wir Debatten intellektualisieren und uns in politischen Komplexitäten verirren, sollten wir uns unserer Werte bewusst werden, und darüber, wie unser Handeln ihnen entspricht oder widerspricht.
taz: Können Kinderbücher die Welt verändern?
Frickemeier: Vielleicht nicht verändern, aber verbessern. Sie haben auf jeden Fall Macht. Das sehen wir auch daran, dass sie in autokratischen Regimen oft als Erste zensiert oder verboten werden – aktuell in den USA mit Kinderbüchern zu queeren Themen und Critical Race Theory. Die nächste Generation braucht Geschichten über Mut und Freiheit, um zu lernen, sich für Veränderung einzusetzen.
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