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Kiel setzt 270 Familien an die LuftWenn Wohnen illegal wird

Nach 70 Jahren will die Stadt Kiel das Wohnen in Ex-Behelfsheimen beenden. Bis zu 270 Familien sollen ihr Haus abreißen lassen. Auf eigene Kosten.

Dagmar und Henrik Hagner vor ihrem Haus: Es war einst ein Behelfsheim. Bild: Thomas Eisenkrätzer

HAMBURG taz | Sie werden wie Kriminelle behandelt, amtliche Drucksachen werfen ihnen „illegales Wohnen“ und die „rechtswidrige Erweiterung von baulichen Anlagen“ vor. Die Rede ist von rund 270 Kieler Familien und anderen Lebensgemeinschaften, und ihr vermeintliches Verbrechen besteht darin, ehemalige „Behelfsheime“ zu bewohnen.

Die liegen zumeist im Grüngürtel der schleswig-holsteinischen Hauptstadt und wurden von den Vorfahren der nun Gegängelten errichtet, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg – und mit behördlicher Erlaubnis.

Und lange Zeit war es auch kein Problem, diese anfänglich provisorischen Objekte, mit den Jahren oft umfangreich modernisiert und ausgebaut, zu nutzen. Nun aber entschied die Stadt: Die Häuser müssen weg, und für den Abriss zahlen sollen die Bewohner. In den vergangenen Monaten erhielten 23 Betroffene einen „nicht verhandelbaren“ Duldungsvertrag von der Kommunalverwaltung: Zehn weitere Jahre dürfen sie ihre Häuser nutzen, dann muss abgerissen werden.

Verpassen die Bewohner diese Frist, drohen hohe Vertragsstrafen. Zudem dürfen sie bis dahin die Gebäude nicht verändern, nicht vermieten und schon gar nicht weiterveräußern. Wer den nun verschickten Vertrag nicht innerhalb kurzer Frist unterschreibt, dem droht das zuständige Amt für Bauordnung eine Nutzungsuntersagung für die Wohngebäude samt Rückbauverfügung an. Wer seine Unterschrift zur Galgenfrist verweigert, muss deutlich früher raus.

Kein offizielles Wohngebiet

Eine der Adressatinnen des „Duldungsangebotes“ ist Dagmar Hagner, die seit ihrer Geburt in der Flintbeker Straße im Stadtteil Gaarden-Süd lebt, inzwischen in dritter und vierter Generation mit Ehemann und Kindern. Ihre Großeltern hatten das Grundstück 1946 von der Stadt gekauft und sich verpflichtet, „Wohnraum für ausgebombte Deutsche“ zu schaffen. Die gewünschte Wohnnutzung wurde später jedoch nie durch einen Bebauungsplan abgesegnet – keines der ehemaligen Behelfsheime Kiels liegt in einem offiziellen Wohngebiet. Damit gab es nie eine klare Rechtsgrundlage für die Wohnnutzung, woraus die Stadt ableitet: Auch alle in den vergangenen 70 Jahren erfolgten Um- und Anbauten sind illegal.

„Als absoluten Knebelvertrag“ empfindet Dagmar Hagner die angebotene Vereinbarung: „Wer das unterschreibt, ist geliefert.“ Trotzdem hätten schon einige Anwohner nachgegeben, die Behörde spricht von neun – zugestimmt, um zumindest für zehn Jahre Ruhe zu haben.

Zerstörung des eigenen Hauses bezahlen

„Einige haben ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt und wissen schon heute, dass sie ihn nicht erfüllen werden“, sagt Hagner, „weil sie sich den Rückbau gar nicht leisten können.“ Die Kosten dafür beziffert sie je nach Größe auf bis zu 70.000 Euro. „Viele hier sind Rentner oder verdienen nicht viel.“ Sie müssten also Kredite aufnehmen, die sie kaum zurückzahlen könnten, sagt Hagner, um die Zerstörung genau der Eigenheime zu bezahlen, die ihre einzige Altersvorsorge seien.

„Wenn wir das verfestigen lassen, würde irgendwann mal der Anspruch der Anlieger entstehen, dass hier auch Straßen und Wasseranschlüsse auf Kosten des Steuerzahlers gebaut werden“, nennt Vize-Bürgermeister Peter Todeskino (Grüne) den Grund für die amtliche Offensive. „Kosten in Millionenhöhe“ kämen dann auf die Stadt zu. „Das können und das wollen wir nicht finanzieren“, ergänzt Birgit Kulgemeyer vom Kieler Bauordnungsamt.

Bürgerinitiative gegen Wohnraumzerstörung

Die Betroffenen haben inzwischen eine Bürgerinitiative gegen Wohnraumzerstörung gegründet, um sich gegen die Vertreibung aus ihren Häusern zu wehren. Die Stadt hingegen reichte ein Schreiben an ältere Betroffene nach, in dem sie ankündigte, auch nach den zehn Jahren etwa „einen dann über 80-jährigen Herrn nicht zu einem unfreiwilligen Wohnungswechsel“ zu zwingen.

„Kiel als soziale Stadt“ sei stets bemüht, „sozialverträgliche Lösungen zu finden“, heißt es in dem Schreiben weiter. Wer den Vertrag trotz solch wolkiger Zusicherung aber nicht unterzeichnen mag, dem droht man unbeirrt an, das weitere Wohnen sofort zu untersagen.

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21 Kommentare

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  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Und sobald die Häuser weg sind, machen private Investoren daraus ein Wohngebiet... hach ja, scheiß Neoliberalismus!

  • "„Wenn wir das verfestigen lassen, würde irgendwann mal der Anspruch der Anlieger entstehen, dass hier auch Straßen und Wasseranschlüsse auf Kosten des Steuerzahlers gebaut werden“, nennt Vize-Bürgermeister Peter Todeskino (Grüne) den Grund für die amtliche Offensive."

     

    Das soll wohl ein Witz sein!

     

    Widerlicher gehts wohl kaum. Wer jetzt noch grün wählt, macht such mitverantwortlich für die Vertreibung von Menschen!

     

    Solche Geschichten kennt mensch aus Bananenrepubliken. Da gehört Kiel wohl offensichtlich dazu!

  • Es wird wohl auch in Kiel die Vewaltung und Politik eng verpflochten..

     

    Dem Text ist ja nur zu entnehmen, dass dereinst mal eine Wohnutzung in diesem Gebiet gewünscht und geduldet worden ist.

    Also ist zu fragen, ab wann das Gebiet rechtlich zu einer Zone erklärt wurde, wo dies nicht mehr gehen soll, andererseits ist die Frage zu stellen, wie sich in SH die Bauordnung entwickelt hat und wer von wann an welche Pflichten bei Um- und Änderungsbau hatte.

     

    Der Stadtverwaltung ist aber sicher nicht entgangen, dass dort seit 70 Jahren Menschen leben und dies wird sich bei den Einrictungen der Daseinsvorsorge widergespiegelt haben..

  • Bereits unterschriebene Verträge können nichtig oder teilnichtig sein. Zum Beispiel, wenn sich die Vertragspartner nicht als gleichberechtigte Partner gegenüberstehen und der "untergeordnete" Vertragspartner (subordinationsrechtlicher Vertrag) keine Möglichkeit hat, auf den Vertragsinhalt Einfluss zu nehmen. Oder wenn der Vertrag gegen andere Gesetze verstößt, z. B. wegen Sittenwidrigkeit.

  • Die Verwaltung muß ausführen, was die Politiker beschlossen haben.Wer regiert in Kiel?Nennen Sie Die Parteien.

    • @jaul:

      Leider ist meine Antwort nach oben gerutscht ( Es wird wohal auch in Kiel die Verwaltung ......)

       

      Mich interssiert der Satz: „Wenn wir das verfestigen lassen, würde irgendwann mal der Anspruch der Anlieger entstehen, dass hier auch Straßen und Wasseranschlüsse auf Kosten des Steuerzahlers gebaut werden“,

       

      ich kann mir nicht vorstellen, dass auch bislang Wasseranschlüsse nicht vorhanden sind, es sei denn, die Menschen wären dort Selbstversorger und hätten geeignete Brunnen. Aber mindestens eine Zufahrt muss es geben und die Abwässer müssen auch bislang auf irgendeine Weise behandelt worden sein.

       

      Ich gehe auch eher davon aus, dass ausgewiesene Grünzonen - um eine solche soll es sich ja handeln - oftmals dazu benutzt werden, um anderswo umso schlimmer die Natur und das Stadtbild zu ruinieren, als Feigenblatt also, mit dem man dann eigenes"positives" Handeln in der Gesamtbilanz anpreisen will.

  • Leute, Leute Ihr müsst doch nun mal einsehen dass, jetzt da Kiel Teil der Hamburger Olympiabewerbung 2024 ist, ("Das ist eine tolle Nachricht. Unsere Freude ist heute so grenzenlos wie der olympische Gedanke“, Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer und Bürgermeister Peter Todeskino 13.04.2015) muss der Saustall endlich ausgemistet werden.

    Da wird jetzt, zack zack wie in Mexico-City zu Olympia 1968 das Slum plattgemacht und die Bewohner in die Pampa gejagt. Aber natürlich mit der Deutschen Variante per Vorschriften und Knebelvertrag und nicht mit Planierraupen.

    Denn man ist ja schließlich ein kultivierter Hanseat.

  • Es kann sich um keinen Vertrag als Rechtsgeschäft nach Vertragsrecht handeln, bei dem die Parteien einen Abschluss aus freien Willen unterzeichnen. Es ist dem Charakter nach ein Verwaltungsakt der Stadt Kiel, in dem"Vertragspartnern" die existenzielle Notlage angedroht wird.

    Wer diesen Vertrag unterzeichnet, bringt sich um den notwendigen VA zur Nutzungsuntersagung, damit Widerspruchs- und Klagemöglichkeit. und Unterstützung der Öffentlichkeit.

    Den Bewohnern, denen man Straße, und Kanalisation verwehrt, da diese scheinbar Kieler 2. Klasse sind, viel Erfolg !

    • @lions:

      Kann gar nicht sein, dass die Stadt die Bewohner bislang ignoriert und damit das Wohnen dort nicht wußte und duldete.

       

      Die Kinder müssen ja zur Schule gegangen sein und irgendwie muss man von den Grundstücken runter auf die Straßen gekommen sein.

      • @Tecumseh:

        Ich kenne die Verhältnisse dort nicht, doch der Aussage der Verwaltung wegen: "Wenn wir das verfestigen lassen, würde irgendwann mal der Anspruch der Anlieger entstehen, dass hier auch Straßen und Wasseranschlüsse auf Kosten des Steuerzahlers gebaut werden“, darf ich annehmen, dass es dort keine Straßen und Kanalisation gibt, die den Namen verdient oder anders; marode Infrastruktur, die von einer zukünftigen Modernisierung ausgeschlossen werden soll.

        Vom Grundstück runter kommt man auch über einfache Fahrwege oder verfallene Straßen.

        • @lions:

          Ich denke, die Stadt wird nur gezwungen sein, neuerlichen gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen und notwendige Instandhaltung und Sanierung zu leisen.

           

          Es ist manchmal möglich und sinnvoll, Abwässer in Sickergruben landen zu lassen, was früher, als man noch nicht so viel Chemie im Haushalt einsetzte auch sicher oft gut in ländlicher Umgebung möglich war.

           

          Zu irgendeiner öffentlichen Straße muss man gelangt sein. Die Anwohner müssen seit Jahrzenhten Post (Wahlbenachrichtigung!) erhalten haben, Post(und die war lange Zeit staatlich) muss zugestellt worden sein!

           

          Kaum vorstellbar aber ist, das es keine Müllabfuhr gab und auch die muss Zuwegungen gehabt haben.

  • 5G
    5393 (Profil gelöscht)

    Ich schlage vor, dass die Betroffenen Kontakt zu Boris Sieverts aufnehmen, der exakt mit solchen Projekten in der gleichen Konstellation anfing in Köln mit der gleichen Situation nach dem Krieg entstandener provisorischer Bauten alternativer Stadtgebiete, mittlerweile werden die Projekte längst vom Bund und Goetheinstitut gefördert und weltweit promotet u. a. Sieverts hatte damit Professuren in Japan und Hamburg, Hamburg ist ja nicht weit. Ich selbst hatte so ein Projekt mal getestet und wurde sofort vom Bügermeister (SPD) gesperrt, sofortiges mundtot machen. Es geht denen knallhart um s Geld (was die nicht sehen, muss wahrnehmbar gemacht werden), beim Geld hört auch bei den Grünen die Freundschaft auf und Blindheit fängt an. Vernetzen und beraten.

  • Sollte der Bericht stimmen, dann kann man das Verhalten der Stadtverwaltung nicht mehr asozial nennen, denn das ist offen antisozial. Herzlichen Glückwünsch nach Kiel.

    • @Jürgen Matoni:

      Was da wirklich vor sich geht, muss gründlicher dargestellt werden.

       

      Es müssen Sitzungs- und Satzungprotokolle vorhanden sein, ich weiß ja auch nicht, ob Straßen- und Kanalarbeiten von der Stadt dort durchgeführt worden sind (wohl anzunehmen) und was sich daraus für das Rechtsgefühl der Bürger hat ergeben müssen.

    • @Jürgen Matoni:

      Aber jeder Protest - auch bei einem eventuellen Anrücken der Bagger - muss bitte wirklich friedlich bleiben. Echt jetzt! Denn das ist ja keine richtige Gewalt, die man den BewohnerInnen dort antut. Nur ein Brief. Rechtens und ehrlich nicht die Schuld von irgendwem.

  • 1G
    10391 (Profil gelöscht)

    "Vize-Bürgermeister Peter Todeskino (Grüne)"

    der Name ist hier wohl Programm ....

    • @10391 (Profil gelöscht):

      Und wieder sind es die Grünen, die sich als Verbots- und Gängelpartei hervor tun...

  • Moin aus Kiel,



    Wir möchten uns bei der taz für die gründliche Recherche und rasche Veröffentlichung zu unserer Problematik in Kiel bedanken.







    Mit freundlichem Gruß, im Namen der Bürgerinitiative "Zuhause im Grüngürtel",



    Henrik Hagner



     

    • @BI:Zuhause im Grüngürtel:

      Wie ist denn das Gebiet in den Flächennutzungsplänen über die Jahrzehnte hin dargestellt worden und wie sind Änderungen protokolliert worden?

       

      Ist bekannt zu machen, ob und welche Entwicklungsabsichten über diesen Bereich bei den Behörden und Gremien der Stadtverwaltung Kiel im Umlauf sind?

       

      Habt Ihr auch die Möglichkeit eine Internetseite über euren Fall aufzustellen?

      • 8G
        889 (Profil gelöscht)
        @Tecumseh:

        Moin Henrik,

         

        solidarische Grüße aus Süddeutschland!

         

        Tecumseh, die Website der BI gibt's hier: http://zuhause-im-gruenguertel.de/

        • @889 (Profil gelöscht):

          Ah, moin nochmal... Danke für die Ergänzung @ Kleiner Spinner .

          Sorry die späte Antwort, es ist derzeit mühsam, seine Augen auf sämtlichen Kanälen zu haben.

          Wir sind derzeit noch viel mit der Recherche zu möglichen Entwicklungsabsichten beschäftigt, sobald wir uns da bei Fakten sicher sind, wird es auf unserer Website zu finden sein.ä

          Mit freundlichen Grüßen Henrik