Ken Loachs letzter Film: Noch sind sie sich fremd
Nordengland: Syrische Geflüchtete treffen auf abgehängtes Proletariat. Ken Loachs letzter Film „The Old Oak“ steht im Zeichen des Brückenbauens.
Kaum ist die Syrerin Yara (Ebla Mari) in der britischen Grafschaft Durham aus dem Bus gestiegen, greift ein Brite im schwarz-weiß-gestreiften Fußballtrikot ungefragt in ihre Tasche, fuchtelt mit ihrer Kamera herum und lässt sie fallen.
Die Kamera geht kaputt. Er weigert sich, die Reparatur zu zahlen. Mit dieser Szene beginnt „The Old Oak“, der neue – und mutmaßlich letzte – Film des Regisseurs Ken Loach. Er spielt im Jahr 2016. Die hoffnungslosen Bewohner einer ehemaligen Bergarbeiterstadt in Nordengland treffen darin auf syrische Geflüchtete.
Die Stadt ist trist, es wachsen nirgends Blumen, die Sonne scheint nicht, Haustüren quietschen und Wände sind dreckig. Es wirkt, als hätte jemand den Kontrast heruntergesetzt – matt, braun, beige, dunkel. Das „k“ des Old Oak, des einzigen noch verbliebenen Pubs der Stadt, hängt schief.
Das „k“ knickt ab
Dessen Betreiber TJ Ballantyne (Dave Turner) versucht zu Beginn des Films mit einem Holzstab, den Buchstaben wieder ins Lot zu bringen – es gelingt ihm nur kurz. Dann knickt das „k“ wieder ab. Außer dem „Old Oak“ existiert kein Versammlungsort mehr. TJ Ballanyne, ein älterer, stiller Brite, macht trotzdem weiter und verbittert nicht darüber.
„The Old Oak“. Regie: Ken Loach. Mit Dave Turner, Ebla Mari, u.a. Vereinigtes Königreich/Frankreich/Belgien 2023; 113 Min.
Der Pubbesitzer ist auf eine produktive Weise ambivalent. Er hilft Yara, repariert ihre Kamera und hält zeitgleich aus, dass die frustrierte Stammkundschaft seiner Pinte die neuen Kleinstadtbewohner aus Syrien als „Parasiten“ bezeichnt und den Klassikersatz „I’m not a racist, but…“ raushaut. Durch die statische Kamera, die an den Stammgästen kleben bleibt, werden Zuschauende zu Beobachtern, die das Geschehen – anders als im echten Leben – ohne Fremdscham wirken lassen können.
Weil das eigene Alltagsleben trostlos und eingegrenzt scheint, lästern die Kleinstadtbriten beim schalen Bier über die Neuankünfte in der Stadt, halten in ihrer Engstirnigkeit zusammen. Wenn Menschen, die wenig haben, sich bedroht fühlen, dass ihnen das Wenige auch noch weggenommen wird, kriegen sie Angst. Loach nimmt sowohl die Angst von, als auch die Gefahr durch die sozial und ökonomisch Abgehängten mit seiner Erzählweise ernst.
Gesichter statt Statistiken
Deshalb passt ein Film wie „The Old Oak“ in Zeiten der Polarisierung. Loach erzählt im Kleinen, macht aus Nummern und Statistiken Gesichter und bleibt beim Erzählen unaufdringlich. Er rückt nur die Worte und Gesichter in den Fokus – auch visuell. Denn die Misere steht den Personen ins Gesicht geschrieben. Ken Loach hält drauf, lässt die von Sorgenfalten gezeichneten Gesichter der Bewohner der hoffnungsfreien Kleinstadt wirken – ebenso wie das Gesicht von Ebla Mari, die als Yara eine Bandbreite komplexer Emotionen zeigt.
In „The Old Oak“ kollidiert der Rassismus mit den sozialen Fragen. Als Yara eine britische Teenagerin, die beim Sport krank geworden ist, nach Hause bringt, wird sie von deren Mutter mit den Worten „Geh dorthin, wo du hergekommen bist“ weggescheucht. Später scheint die Mutter ihre rassistischen Vorurteile erkannt zu haben, bedankt sich bei Yara. Mit dem Bedanken der Mutter löst Loach die Situation subtil auf, stellt die langsame Annäherung und das Verständnis der dargestellten Menschen füreinander dar.
Diese Annäherungen und Erkenntnismomente tauchen im Film mehrmals auf und zeigen: Leid und Schmerz lassen sich nicht vergleichen. Die hilfsbereite Laura (Claire Rodgerson) erkennt ihre blinden Flecken, als sie einem syrischen Mädchen ein gespendetes Fahrrad überreicht und ein britischer Junge aus sozial schwachen Verhältnissen sagt: „Ich wünschte, ich würde ein Fahrrad bekommen.“
Früher war mehr Hoffnung
Als TJ und Yara im Nebenraum des Pubs gemeinsam Schwarz-Weiß-Fotos von Bergarbeitern betrachten, sprechen sie ohne Filter, gehen von Bild zu Bild, Yara teilt Erinnerungen aus Syrien, TJ erzählt von Protesten der Bergarbeiter und den Jahren, in denen Durham hoffnungsvoller war. An einigen Stellen begleitet sanfte Klaviermusik die Szenen, die lange genug stehenbleiben, um zu wirken.
Loach verhindert durch die Beiläufigkeit der Konversation, dass die Charaktere wie Opfer wirken. Er zeichnet Yara als starke und ambitionierte Frau, mit dem Traum, Fotografin zu werden, während er nicht auslässt, dass auf dem Weg zu diesem Traum große Hindernisse liegen: Krieg, Ungewissheit über den Verbleib ihres Vaters und Alltagsrassismus. Yara und TJ werden im Film zu metaphorischen Brückenbauern, die die Menschen, die sich noch fremd sind, zusammenbringen.
„When you eat together, you stick together“, steht unter einem Foto, das Bergarbeiter beim großen Streik 1985 zeigt. Getreu diesem Motto fangen Yara, TJ und andere Kleinstadtbewohner an, kostenlose Essen zu organisieren – für die verarmten Kinder der Stadt, die sich abgehängt fühlen, und die Geflüchteten aus Syrien. Loach möchte seinem Publikum so zu verstehen geben: Wenn Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten einander helfen und unterstützen, können daraus Verbindung und Vertrauen entstehen.
Der Film reißt viele Themen an: Angst, Trauer, Fremdenhass, Suizidgedanken, Aufgeben und Weitermachen. Am Ende bleiben Gedankenanstöße, in die Richtung von mehr Nächstenliebe und Verständnis. Ken Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty erzählen die Geschichten nicht aus.
Lösen die Probleme nicht. Beharren nicht auf einem Happy End. Das scheint nicht das Ziel – und das ist in Ordnung so. Denn die Figuren im Film wachsen (zusammen), nähern sich an. Nicht linear, nicht ohne Rückschläge, sondern fragmentiert. Es ist wie das, was Protagonistin Yara mit ihren Fotos macht: ein Schnappschuss, mit Details, roh, zeitgemäß.
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