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Kathrin Schmidts „Kapoks Schwestern“Zwei Spätmädchen auf Zeitreise

Warum haben die Eltern kaum über die jüdische Herkunft geredet? Kathrin Schmidt entrollt in „Kapoks Schwestern“ 100 Jahre Zeitgeschichte.

Zeitreise in die Vergangenheit Foto: photocase.de/elmue

Das Rattern eines Super-8-Projektors, es bringt zurück in die Vergangenheit. Etwas über fünfzig Jahre alt sind die Schwestern Claudia und Barbara Schaechter, die, kinderlos beide, in das Haus ihrer Eltern zurückgezogen sind, nahe einer Gartenkolonie in Treptow. Auf dem Dachboden finden sie die alten Filme. Sehen ihre Eltern, Cilly und Joachim, als die jung waren und aus Moskau nach Berlin, Hauptstadt der DDR, zurückgekehrt waren mit ihren zwei kleinen Mädchen.

Mit den Schwestern begibt sich die Autorin Kathrin Schmidt auf eine ein Jahrhundert umspannende Zeitreise. Warum, fragt sich Barbara, erkennt sie erst jetzt, dass das von Cilly gehäkelte Käppchen, das der unter Haarausfall leidende Joachim am Strand und zu Hause trug, nie aber bei seiner Arbeit als Bildredakteur einer Gewerkschaftszeitung, eine Kippa war? Warum haben ihre Eltern, die liebevoll, gebildet und offen in vielen Dingen waren, mit ihren Töchtern kaum über die jüdische Herkunft ihrer Familien geredet?

Ihre nach dem Tod der Mutter erst allmählich entstehenden Fragen bringen die Schwestern zu lange nicht gekannten Verwandten, Nachkommen von Überlebenden des Holocaust und auch von stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Exil und Migration hat die Familie nach Wien, Sarajevo, die USA, Kalkutta geführt.

Teils aus der Perspektive der Schwestern erzählt, aus ihrem Versinken in Rekonstruktionen der Zeit, teils als auktoriale Erzählerin entrollt Kathrin Schmidt so nach und nach 100 Jahre Zeitgeschichte.

Das Buch

Kathrin Schmidt: „Kapoks Schwestern“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 448 Seiten, 22 Euro

Mit Victor Schaechter, dem Großvater der Schwestern, der in seiner Jugend in den zwanziger Jahren vom Ideal der klassenlosen Gesellschaft gepackt wird, „die auf dem Weg über die Diktatur der Arbeiterklasse über die Minderheit der expropriierten Kapitalisten zu erreichen sein sollte“, beginnt eine Familien-Geschichte zwischen Berlin und Moskau, in der das Marginalisieren des eigenen Judentums bis zum Verstecken geht.

Antisemitismus? Denkverbot, Sprachverbot

Die Frage nach dem Antisemitismus der Stalinisten, sie fällt für Victor, den Großvater, unter ein Denkverbot, selbst dann noch, als er selbst zu den Inhaftierten gehört. Die Frage nach dem Antisemitismus in der DDR, sie fällt für Joachim und Cilly unter ein Sprachverbot, zumindest öffentlich oder vor ihren Kindern. Wie ein Vorhang liegt dies über der Geschichte, der im Roman nach und nach wegzogen wird.

Manchmal erinnert „Kapoks Schwestern“ in seinem zeithistorischen Ausholen an Nino Haratischwilis „Das achte Leben“. Hier wie dort verliert das Erzählen manchmal die Nähe zu den Figuren, um das Notwendige aus der Geschichte einzubringen. Doch das Empathische, das Mitleiden, mit dem Nino Haratischwili ihre Leser dazu bringt, mit schreckensgeweitetem Blick und der Angst vor der nächsten Katastrophe die Geschichte einer Familie aus Georgien zu verfolgen, ist Kathrin Schmidts Sache nicht. Ihre Rekonstruktion der Vergangenheit ist vorsichtiger, distanzierter. Sie legt Konturen aus und überlässt das Ausmalen der Empfindungen den Vermutungen des Lesers.

Dennoch, so ganz ausbalanciert ist das Verhältnis zwischen den Romanfiguren und dem historischen Material nicht. Den titelgebenden Werner Kapok zum Beispiel, Nachbar der Schwestern, Kinderfreund und später ein Professor für Philosophie, den das Ende der DDR in seiner Identität und Gefügigkeit ziemlich aus der Bahn schmeißt, verliert man über die 440 Seiten oft lange aus dem Blick. Er und Claudia können an ihre Jugendliebe noch einmal anknüpfen am Ende des Romans.

Diese Kapitel, die nah sind an der Gegenwart und am Alltag der Schwestern – Claudia, ehemals Kostümbildnerin, näht extravagante Kleider, Barbara arbeitet auf einem kommunalen Kulturamt –, stellen eine große Vertrautheit her. In knappen, umstandslosen Sätzen. So wie die Schwestern, von denen jede oft die Gedanken der anderen erahnt und vorwegnimmt – was keine von beiden liebt –, kann sich der Leser in der Gegenwart des Romans bald auf einem Grund bewegen, der nicht dauernd nach Erklärungen verlangt. Das ist ein ganz eigenes Vergnügen, das gestattet Erholungspausen zwischen den historischen Exkursen, zwischen deren vielfältigem Personal man gelegentlich auch den Überblick oder die Geduld verlieren kann.

Manchmal übernimmt die Autorin Begriffe aus dem Denken der Schwestern. „Spätmädchen“ ist so ein Wort, eine durchaus mal erprobenswerte Alternative zu „Single“ für Frauen über fünfzig, die Familie als Modell nie wollten. Dass beide Schwestern im Laufe des Buchs vom Geliebtwerden überrascht werden und diese plötzliche Romantik in ihrem Leben ganz schön skeptisch betrachten, erfreut vermutlich vor allem ältere Leserinnen. Wiegt als Motiv, diesen Roman zu mögen, aber nicht wenig.

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1 Kommentar

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  • Denkverbote wie die hier thematisierten sind einer inneren Notwendigkeit geschuldet. Gibt es die interne Notwendigkeit nicht, kann externer Druck wenig bewirken.

     

    Liebevolle Eltern wollen ihren Kindern möglichst viele der Konflikte ersparen, unter denen sie selber leiden oder gelitten haben. Was ein Konfliktpotential birgt, wird oft gar nicht erst thematisiert in der Erziehung. Dieser "Schutzmechanismus" funktioniert leider nur bedingt.

     

    Den herrschenden Sozialisten in der SU und der DDR galten alle Religionen, auch die jüdische, als historische Relikte (Opium etc.), die überwunden werden müssen. Menschen mit Macht, die aus psychischen Problemen heraus aggressiv waren, bekamen damit eine risikoarme Möglichkeit zum Machtmissbrauch gegenüber weniger Mächtigen.

     

    Wer als Jude in der Hoffnung auf eine insgesamt bessere Gesellschaft aus Nazideutschland in die SU emigriert ist, hat eine Lösung gewählt, die zugleich ein Problem darstellte – es sei denn, er sagte sich von seinem Glauben los. Hat er seine Kinder ohne religiöse Unterweisung aufwachsen lasse, ist der Konflikt zwar nicht verschwunden, er wurde aber unsichtbar, weil er ins Innere der Eltern verlagert wurde.

     

    Auf diese Art kann eine ganze Gesellschaft innerhalb von nur zwei oder drei Generationen scheinbar völlig "umgekrempelt" werden was ihre ethisch-moralischen Grundlagen angeht. Was bleibt, sind viele gefährliche Leerstellen. Nicht, weil es ohne Religion nicht geht, sondern weil die Religion nie durch etwas anderes ersetzt wurde. Der Boden ist quasi hohl, auf dem man geht.

     

    Was in der DDR mit dem Glauben UND der NS-Ideologie passiert ist, ist im Westen auch passiert, bloß halt nicht mit dem Glauben. Die Kontinuität der Nazi-Eliten hat eine Menge blinder Flecke verursacht, die das Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen bis heute stark behindern. Die Ideologie ist ja nicht weg. Sie ist bloß nicht zu sehen weil als konfliktträchtig/riskant "verinnerlicht".