Heiligsprechung von Carlo Acutis: Auch tote Jungen kann man noch missbrauchen
Mit der Heiligsprechung des jungen Carlo Acutis will die katholische Kirche fresh wirken. Dafür nimmt sie auch die Verbreitung antijüdischer Legenden in Kauf.

Wer das für einen Mittelalterquatsch hält, der eigentlich so ziemlich allen egal sein könnte, liegt nicht nur historisch falsch. Heiligsprechungen sind eine eher moderne Praxis. Seit der Jahrhundertwende hat es mehr Heiligsprechungen gegeben, als in der gesamten Kirchengeschichte zuvor.
Und selbstverständlich sind sie stets auch politisch. Am leichtesten lässt sich das an Johannes Paul II. erkennen, der ihr propagandastisches Potenzial gezielt im Kampf gegen den Sozialismus und gegen lateinamerikanische Befreiungsbewegungen eingesetzt hat.
Das meiste mediale Aufsehen – und darum geht es bei der Zeremonie – erzeugt gegenwärtig die Kanonisierung des Jungen Carlo Acutis. Kurz nach der Geburt seines ersten Sohns im Frühjahr 1991 hat Vater Andrea den Job als Banker in London City gegen den im Familienkonzern in Mailand getauscht.
Ohne Wunder keine Heiligen
Dort kam der Junge mit vier Jahren in den Kindergarten, dann kurz aufs renommierte Istituto San Carlo di Milano, eine katholische Privatschule, von wo er nach drei Monaten ins traditionsreiche Istituto Tommaseo delle suore Marcelline wechselte, eine andere katholische Privatschule.
Anschließend ging er aufs Gymnasium des traditionsreichen Istituto Leone XIII, eine Privatschule, natürlich katholisch, von Jesuiten geführt. Im Sommerurlaub war er wohl gern mal bei den Großeltern mütterlicherseits in Kampanien. Er war sehr fromm, hatte dunkle Locken und ein nettes Lächeln. Und im Herbst 2006 ist er mit 15 Jahren an einer besonders aggressiven Leukämie gestorben.
Danach soll er in Brasilien ein Kind geheilt haben, und später in Florenz eine Frau, die auf den Kopf gefallen war, denn ohne Wunder vollbracht zu haben, wird niemand zum Heiligen. Und wer so jung stirbt, muss das halt postmortal erledigen.
Jung, das ist hier wichtig: Die Kirche hat ein Interesse daran, für Jugendliche attraktiv zu werden. Das fällt ihr schwer, weil ihr Personal im Umgang mit jungen Menschen mehrfach auffällig wurde. So war im Vatikan selbst der ehemalige Kurienkardinal Angelo Comastri ein Motor der Heiligsprechung von Acutis.
Comastri war von 2005 an fürs Knabeninternat im Vatikan verantwortlich: Die Missbrauchsvorfälle dort hatte er tatkräftig vertuscht. Im Januar 2024 ging der Prozess mit einem Schuldspruch zu Ende. Während des Verfahrens war Comastri in den Ruhestand versetzt worden.
Ein ganz normaler Verwesungsprozess
Das war 2021. Aber zwei Jahre zuvor war, wohl auch auf sein Betreiben, Acutis’ in Assisi begrabener Leichnam zur Seligsprechung exhumiert worden. Völlig unversehrt, so behauptete die Mutter damals. Aber das war dann selbst dem örtlichen Bischof Domenico Sorrentino zu dicke: Der Leichnam „fu trovato nel normale stato di trasformazione proprio della condizione cadaverica“, stellte der Kirchenfürst klar, er wurde also im ganz normalen Verwesungszustand aufgefunden.
Der tote Junge wurde dann unter verschärftem Einsatz von Formaldehyd und Silikon stabilisiert und hübsch gemacht. Die Reste seines Herzens hat man in ein Extragoldgefäß umgefüllt. Die Mamma wollte das so. Und es ist auch verehrungspraktisch sinnvoll.
Ekliger noch ist, dass mit der Kanonisierung des Knaben ein judenfeindliches Narrativ geheiligt wird. Das hatten nacheinander die taz, wiederholt auch der österreichische Religionsjournalist Otto Friedrich und zuletzt der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, problematisiert.
Denn zu den Werken, für die Acutis kanonisiert werden soll, zählen zwei angeblich von ihm erstellte Homepages mit tatsächlich von ihm zusammengetragenen Legendensammlungen: Eine listet Marienerscheinungen, eine andere sogenannte eucharistische Wunder auf. Das sind Geschichtchen, in denen mit einer vom Priester geweihten Hostie etwas passiert, oft nachdem sie geklaut oder geschändet wurde.
Erfunden worden sind die Legenden manchmal, um lukrative Wallfahrtsorte einzurichten. Sehr oft aber dienten sie auch dazu, den Volkszorn zwecks Beseitigung Unliebsamer in Wallung zu bringen.
Hinrichtungen und Zwangstaufungen
Sehr häufig waren diese Geschichten schlicht Vorwand für die blutigsten Pogrome gegen Juden. Den Anfang macht hier im Jahre 1290 Paris: Weil er eine Hostie mit Nägeln, Feuer und kochendem Wasser zu zerstören versucht haben soll, wird der Geldverleiher Jonathas hingerichtet, seine Familie zwangsgetauft.
Dieses „Miracle des Billetes“ fehlt in der Sammlung ebenso wenig, wie das Massaker von Brüssel im Jahr 1370. Das hat Acutis unter der Bezeichnung „Miracle du Saint Sacrement“ abgespeichert. Dem Historiker Christoph Cluse zufolge von der Geistlichkeit arrangiert, beendete es die Anwesenheit von Juden in Brabant.
Sie hätten, so der irre Vorwurf, an Karfreitag in ihrer Synagoge, die selbstredend zerstört wird, zu diesem Zweck bereits im Oktober gestohlene Hostien mit Messern traktiert. Darum werden am 22. Mai 1370 die wenigen noch in Brüssel und Leuven verbliebenen jüdischen Familien verbrannt.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil warnt die Diözesanbehörde des Erzbistums Mechelen-Brüssel davor, die tendenziöse Story weiterzuverbreiten. Kardinal Leo Jozef Suenens hatte sich zwar geweigert, die Fenster mit der Darstellung der Szene aus der Brüsseler Kathedrale entfernen zu lassen.
Aber Mitte der 1970er Jahre wurde unter ihnen immerhin eine Bronzetafel angebracht. Deren Text drückt die Hoffnung aus, die katholische Kirche werde derart antijüdische Legenden künftig kritisch betrachten. Aber nein: Rund 50 Jahre später erhebt sie einen Jungen zum Glaubensvorbild, der diese bösartigen Verleumdungsstorys im Internet ausgegraben, unter verschärftem Einsatz von zusammengeklaubten Bildchen aufgehübscht und zur besseren Verehrung online gestellt haben soll.
Fromme Zurechtweisungen
Haben soll ist wichtig. Denn über Carlo Acutis wird zwar viel geschrieben. Vor allem die Mamma, der die Heiligsprechung ihres zu früh gestorbenen Kindes ein Herzensanliegen ist, produziert am laufenden Band Hagiografien, was bei dem spärlichen Lebenslauf ja echt an ein Wunder grenzt. In denen ist zu erfahren, dass sich der Knabe die Augen zuhielt, wenn im Fernsehen zweideutige oder sexuelle Werbespots gesendet wurden, sí, sí, so war’s.
Und Freundinnen – also sie sei ja nie eine aufdringliche Mutter gewesen, ganz im Gegenteil, aber manchmal kann man einfach nicht weghören, wenn der Filius telefoniert! – also Freundinnen, die ihm fernmündlich berichtet hätten, wie sie in der Disko jemanden kennengelernt und mit diesem noch in der gleichen Nacht rapporti intimi gehabt hätten, diese Freundinnen habe er voll väterlicher Güte zurechtgewiesen.
In Interviews legt sie ihrem Erstgeborenen Bonmots in den Mund, wie das, nach dem alle Menschen als Originale geboren würden, aber die meisten als Kopien sterben, das Edward Young schon 1759 geprägt hat. Sie verkauft es als Wort ihres unsterblichen Sohnes, und die Webgemeinde betet’s nach. Als Quelle scheidet sie daher aus.
Bekannt ist folglich außer den Lebensdaten fast nichts über ihn. Man ahnt, dass er außer mit der Heiligen Maria Mutter Gottes mit keiner Frau je intimen Verkehr hatte. Man kann überprüfen, dass seiner Familie, abgesehen von etwas Streubesitz, der milliardenschwere Vittoria-Versicherungskonzern gehört.
Reliqiuen im Netz
Darüber hinaus wird der tote Bub zwar seit etwa zehn Jahren als „Influencer Gottes“ oder „Cyberapostel“ vermarktet. Aber eine Grundlage dafür fehlt: Sollte das Kind im Internet Spuren hinterlassen haben, so sind sie pietätlos verwischt oder gar getilgt worden. Nicht mal Screenshots seines WWW-Wirkens wurden aufgenommen.
Dabei wären das doch, theologisch betrachtet, Reliquien gewesen, die es zu bewahren gegolten hätte. Keine der Websites jedenfalls, die unter seinem Namen firmieren, ist zu Carlo Acutis’ Lebzeiten online gegangen. Die Domain, auf der seine PDF-Dateien mit eucharistischen Wundern abrufbar sind, hat zuallererst Nicola Gori entdeckt. Der ist als Postulator, also Fürsprecher im Heiligsprechungsverfahren tätig und beschäftigt sich seit 2007 mit dem Thema.
„Miroacolieucaristici.org“ ist am 29. November 2007 registriert worden, rund ein halbes Jahr nach der Domain der ältesten auf Acutis bezogenen Homepage. Ihre Inhalte lassen sich nur mithilfe der Waybackmachine von archive.org aufspüren.
Heute leergefegt, hatte sie im Jahr 2008 einen rudimentären Charakter, ganz als wäre hierhin der Entwurf der persönlichen Homepage eines jungen Menschen migriert worden, der sie nicht hatte fertigstellen können. Auf ihr finden sich aber weder Links zu den wundersamen Websites, noch werden sie im posthumen Einführungstext erwähnt.
Tiere, Freunde, Autobahnen
Was sich dort an authentisch wirkendem Material findet, ist eine Art banal-frömmelnde Maximensammlung mit neun Unterpunkten à la: Lies täglich etwas Bibel! und: Denk stets daran, den Rosenkranz zu beten!, ach, so eine triste Jugend.
Sonst gibt es die Rubriken „Tiere“ (mit Katzen, Hunden und Goldfischen), „Freunde“ – damit sind ausschließlich Heilige der katholischen Kirche gemeint – „autostrade“ (Autobahnen), „astronave“ (Raumschiffe) sowie „mamma“, aber der Link führt, wie die meisten, bloß auf einen „Sito in costruzione“ (Website im Aufbau).
Irgendjemand muss daraus den Auftrag abgeleitet haben, die Legendensammlung online zu stellen, die der Junge erstellt und in PDF-Dateien abgespeichert hatte. Gedient hatten diese als Vorlagen für eine Ausstellung. Die wurde um 2004 in der Basilika Santi Ambrogio e Carlo in Rom gezeigt, ganz analog und auch für damalige Zeiten eher schlichtem Layout.
Indem sie nun als vermeintliches Internetwunder zum Argument für die Heiligsprechung des Jungen hochgejazzt wurde, geht von der Sammlung nicht nur eine Botschaft an die Jugend der Welt aus. Die Kanonisierung von Carlo Acutis wird durch sie, der Wiedereinführung der judenfeindlichen Karfeitagsfürbitte durch Papst Ratzinger nicht unähnlich, auch zum Wink an rechte bis ultrarechte katholische Gruppen von Opus Dei bis zu den Ku-Klux-Klan-nahen Kolumbus-Rittern, dass sie mit ihren Ressentiments weiterhin willkommen sind. Sie müssen sie nur hübsch zurechtmachen.
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