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KaschmirKrieg nach Drehbuch

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Die militärische Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan folgt der Logik der kontrollierten Eskalation – genau darin liegt die Gefahr.

Indische Soldaten stehen Wache, während eine Frau auf einen Markt im indisch kontrollierten Kaschmir geht, am 7.5.2025 Foto: Mukhtar Khan/ap/dpa

J etzt also auch noch Indien und Pakistan, als gäbe es nicht schon genug Kriege gleichzeitig auf der Welt. Beide Staaten sind auf Eskalation programmiert, die wechselseitigen Propagandatrommeln laufen auf Hochtouren, der Ausgang ist offen.

Der Krieg verläuft wie nach einem vorbereiteten Drehbuch. Als Rache für einen Terroranschlag auf Urlauber im indischen Kaschmir am 22. April, für den Indien Pakistan verantwortlich macht, wurden erst Grenzen geschlossen und Wasserabkommen gekündigt. Am Mittwoch 7. Mai flog Indien Raketen auf Pakistan, offiziell gegen Terrorstützpunkte. Pakistan schoss mindestens einen indischen Kampfjet ab. Indien beschoss die pakistanische Luftabwehr. Pakistan beschoss den indischen Flughafen Jammu. Das alles in nur 48 Stunden.

Das Drehbuch heißt: kontrollierte Eskalation. Auf jeden Angriff des Gegners folgt ein stärkerer eigener Angriff. Es geht nicht um bloße „Vergeltung“, erklären indische Militäranalytiker, sondern um „Abschreckung“ – bei Vergeltung wird proportional zurückgeschossen, bei Abschreckung überproportional. Das ist rational, erprobt und durchdacht. Militärhistoriker des 19. Jahrhunderts dürften ihre helle Freude an diesem Krieg haben, der ihnen in Echtzeit vorführt, wie man es früher in Europa machte. An wenigen Orten auf der Welt ist das „alte Denken“ aus jener Zeit so perfekt konserviert wie in den Denkfabriken und Militärakademien des indischen Subkontinents.

Und doch passt dieser Krieg perfekt in die Welt des verrückten Jahres 2025. In einer Zeit der allgemeinen Enthemmung in den internationalen Beziehungen ist die Logik der kontrollierten Eskalation alternativlos. Nur so wird man respektiert. Du greifst mich an, ich schlage doppelt so hart zurück, so lautet die Formel. Netanjahu und Erdoğan beherrschen das im Schlaf. Trump betreibt so seine gesamte Außen- und Handelspolitik. Putin steigert das zur Gangsterlogik: Ich schlage als Erster zu, und zwar doppelt so hart, wie du es je könntest. Die ganze Welt weiß, wie das geht.

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Provozieren, Zähne zeigen, abwarten

Es gibt also Gründe, sich keine allzu große Sorgen zu machen. Wer die Logik der kontrollierten Eskalation beherrscht, weiß auch ganz genau, wie man im richtigen Moment innehält, ohne in der Sache nachzugeben: provozieren, Zähne zeigen, abwarten. Indien und Pakistan haben ihre Kriege zumeist gestoppt, bevor es richtig schlimm wurde wie 1971, als Ostpakistan sich als „Bangla­desch“ von Pakistan abspaltete, Pakistan in Indien einmarschierte und Tausende auf beiden Seiten starben, bevor Pakistan die Waffen streckte.

Aber genau darin liegt auch die Gefahr. Wer die Logik der kon­trol­lier­ten Eskalation beherrscht, weiß eben auch ganz genau, wie man sie entfesselt und außer Kontrolle setzt. Bis heute sinnen Pa­kistans Generäle auf Revanche für 1971, und bis heute ist Indien seitdem überzeugt, einen Krieg gewinnen zu können. Die geopolitischen Vorbereitungen darauf gehören zum Selbstverständnis beider Länder.

Pakistan geriet vollends unter die Fuchtel seines Militärs; es suchte „strategische Tiefe“, unterstützte die Taliban in Afghanistan und näherte sich China an. Indien glitt in einen intoleranten Hindu­natio­na­lis­mus ab; es suchte die militärische Überlegenheit und knüpfte mal Verbindungen zu Russland als Waffenlieferanten und mal zu den USA, die Alliierte gegen China brauchen. Die geopolitischen Spiele im Asien des 21. Jahrhunderts ähneln denen in Europa des 19. Jahrhunderts, nur dass die Spieler keine „Schlafwandler“ sind wie im berühmten Buchtitel des Historikers Christopher Clark über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1918: Sie wissen, was sie tun.

Der Erste Weltkrieg geriet nicht außer Kontrolle, weil einzelne Kriegsparteien überstürzt in die Schlacht zogen, sondern weil das Spiel der Bündnisse in Europa eine unkontrollierbare Kette von Kriegsausweitungen nach sich zog. Auch in Asien ist die gefährlichste Nachricht dieser Tage nicht in den Schlagzeilen zu finden, sondern in der Bestätigung, dass es Pakistans Luftwaffe gelang, mit ihren chinesischen Kampfjets französische Kampfjets der indischen Luftwaffe abzuschießen. Und zwar in einer Aktion, in der keine Seite den eigenen Luftraum verließ.

Zum ersten Mal hat China sein Militärgerät damit erfolgreich unter echten Bedingungen gegen hochmodernes europäisches Militärgerät getestet. Die Lehren daraus sind offensichtlich und beängstigend. In Taiwan wird man das genau studieren. Indien könnte nun die Eskalation beschleunigen und Pakistan vorbeugend in die Knie zwingen wollen. Und schon stünde die Welt mitten in einem großen Krieg, der die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten in den Schatten stellen könnte. Das verrückte Jahr 2025 ist noch jung.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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3 Kommentare

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  • ". Auf jeden Angriff des Gegners folgt ein stärkerer eigener Angriff." Moment mal, stand am Anfang nicht das Niedermetzeln von 26 Urlaubern?

  • Die Analyse ist richtig, die Perspektive hoffentlich nicht.

  • Die pakistanischen Taliban werden zunehmend aggressiver, die Gewalt in Baluchistan ist eskaliert. Das Problem ist glaube ich nicht das Pakistan und Indien in den großen Krieg ziehen, sondern das Pakistan soviel Ressourcen in den Osten verlegen muss das es im Westen sich gegenüber Separatisten, Terroristen und Kriminellen exponiert. Ein größerer Aufstand in Baluchistan und den Stammesgebieten, insbesondere wenn unterstützt durch Afghanistan könnte Pakistan in massive Bedrängnis bringen zusammen mit Unruhe wegen der derzeitigen Regierung könnte dies Pakistan ins Chaos stürzen.